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"Etwas, das keinen Schaden macht: Das Aquarium"
Es kostet fast gar nichts und ist doch wundervoll: Bedecke den Boden
eines Glases mit einer Handvoll reinem Sand, steck in diesen Bodengrund
ein paar Zweiglein gewöhnlicher Wasserpflanzen, gieße vorsichtig
einige Liter Leitungswasser ein und stelle das Ganze auf ein sonniges
Fensterbrett. Sobald sich das Wasser geklärt hat und die Pflanzen
zu wachsen begonnen haben, setze ein paar kleine Fische hinein, oder,
noch besser, geh mit Einsiedeglas und kleinem Käscher hinaus an den
nächsten Tümpel - einige Netzzüge und du hast eine Fülle
Organismen.
Der ganze Zauber der Kindheit hängt für mich auch heute noch
an einem solchen Käscher, der beileibe nicht ein tadelloses Instrument
mit Messingbügel und Müllergazebespannung sein darf, vielmehr
verlangt die Tradition, dass man ihn binnen zehn Minuten selbst bastelt:
aus roh gebogenem Draht den Bügel, den Beutel aus einem Strumpf,
Vorhangstück oder einer Windel. Mit einem solchen Gerät habe
ich mit neun Jahren die ersten Daphnien für meine Fische gefangen
und dabei die kleine Wunderwelt des Süßwassertümpels entdeckt,
die mich sofort in den Bann schlug. Der Käscher hatte die Lupe im
Gefolge, diese wiederum ein bescheidenes Mikroskop, und damit war mein
Schicksal unwandelbar bestimmt. Denn wer de Schönheit angeschaut
mit Augen ist nicht dem Tod anheimgegeben, wie Platen meint, wohl aber,
so er die Schönheit der Natur angeschaut, dieser Natur. Und hat er
wirklich Augen, wird er unweigerlich Naturforscher.
Du streifst also mit dem Käscher über die Wasserpflanzen des
nächsten Tümpels hin, wobei du meistens Wasser und Schlamm in
die Schuhe bekommst. Hast du den Ort richtig gewählt und eben Tümpel
gefunden, in dem "etwas los ist", wimmelt der Grund des Netzes
von glasig durchsichtigen, kribbelnden, sich windenden Wesen. Du stülpst
die Spitze des Netzbeutels von unten her um und spülst ihn im Einsiedeglas
aus, das du schon vorher mit Wasser gefüllt hast. Daheim angekommen,
leerst du den Fang vorsichtig in dein Aquarium und betrachtest die kleine
Welt, die du nun vor Augen und Händen hast. Das Aquarium ist Welt.
Denn wie in einem natürlichen Tümpel oder See, ja wie schließlich
überhaupt auf unserem ganzen Planeten, leben auch im Aquarium tierische
und pflanzliche Wesen im nämlichen biologischen Gleichgewicht: Die
Pflanze verbraucht die Kohlensäure, die das Tier ausatmet, und scheidet
ihrerseits Sauerstoff aus. Es ist unrichtig zu sagen, die Pflanze atme
nicht wie das Tier, sondern "umgekehrt". Sie atmet genau so
wie dieses Sauerstoff ein und Kohlensäure aus; doch außerdem
und unabhängig davon nimmt die wachsende Pflanze Kohlensäure
auf - das heißt, sie verbraucht den Kohlenstoff für den Aufbau
ihres eigenen Körpers und scheidet dabei Sauerstoff aus, und zwar
mehr, als sie selbst für die Atmung benötigt. Und von diesem
Sauerstoffüberschuss atmen Tiere und Menschen. Schließlich
vermag die Pflanze auch die Ausscheidungsprodukte und Leichen anderer
Lebewesen zu verwerten und dem großen Kreislauf der Stoffe wieder
zuzuführen.
Jede Störung dieses Kreislaufs der Stoffe, des Gleichgewichts im
Zusammenleben tierischer und pflanzlicher Wesen, zeitigt schlimme Folgen.
Schon manchen, gleichviel ob Kind oder Erwachsenen, kam die Versuchung
an, nur noch diesen einen schönen Fisch in den Behälter gleiten
zu lassen, der ohnehin schon bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit
seiner grünen Pflanzen mit Tieren besetzt war. Und gerade an diesem
einen Fisch kann die so sorgsam gehütete und geliebte Welt des Aquariums
zugrunde geben. Dem sind zuviel Tiere darin, entsteht Sauerstoffmangel.
Dem erliegt bald irgendein Organismus, dessen Sterben man vielleicht gar
nicht bemerkt. Die faulende Leiche verursacht eine ungeheure Vermehrung
der Bakterien im Aquarium, das Wasser wird trüb, sein Sauerstoffgehalt
nimmt dadurch weiter stark ab, daran sterben weitere Tiere, und in lawinenartigem
Anschwellen greift die Vernichtung um sich, schließlich fault auch
de Vegetation - und was man vor wenigen Tagen als reizenden klaren See
mit üppig wuchernden Pflanzen und munteren Tieren verlassen hatte,
findet man als hässliche, stinkende Brühe wieder.
Der fortgeschrittene Aquarienliebhaber begegnet solchen Gefahren durch
künstliche Durchlüftung des Wassers. Diese technischen Hilfsmittel
jedoch mindern eigentlich schon den Reiz des Aquariums, der ja gerade
darin besteht, dass sich die kleine Wasserwelt selbst zu erhalten vermag
und außer der Tierfütterung und der Reinigung der Vorderscheibe
des Behälters keine biologische Pflegehilfe braucht. Herrscht nämlich
das richtige Gleichgewicht, bedarf das Aquarium keiner Reinhaltung! Verzichtet
man auf größere Fische, vor allem auf solche, die im Bodengrund
wühlen, so schadet es gar nichts, dass aus den Exkrementen der Tiere
und aus absterbenden Pflanzenteilen, allmählich eine Schlammschicht
entsteht. Die ist sogar erwünscht; weil sie den Boden, der doch ursprünglich
steril war, durchdringt und fruchtbar macht. Trotz Schlamm bleibt das
Wasser selbst so kristallklar und geruchlos wie in irgendeinem unserer
Alpenseen.
Biologisch sinnvoll und auch am schönsten richtet man ein Aquarium
im Frühling ein und besetzt es mit nur wenigen Pflanzensprösslingen.
Dem nur die so gewachsenen Pflanzen passen sich den besonderen Bedingungen
gerade dieses Beckens an und dauern; hingegen verlieren alle Vegetationsteile,
die man schon sozusagen fertig ins Aquarium setzt, viel von ihrer Schönheit.
Zwei auch nur spannenweit voneinander entfernt aufgestellte Aquarien sind
nämlich ebenso scharf charakterisierte Individualitäten wie
zwei Seen, die viele Wegstunden trennen. Gerade das ist ja das Wunderbare
an einem neuen Aquarium, dass man bei seiner Einrichtung gar nicht weiß,
wie es sich entwickeln und wie es aussehen wird, hat es erst einmal sein
eigenes, individuelles Gleichgewicht erreicht. Gesetzt, man richtete zur
gleichen Zeit und mit den gleichen Materialien drei Becken ein, die nebeneinander
auf demselben Brett stünden, bepflanzte alle drei mit Wasserpest
(Elodea) und Tausendblatt (Myriophyllum) - im ersten etwa wucherte bald
eine dichte Dschungel aus Wasserpest, die zarten Myriophyllen wären
völlig verdrängt, im zweiten geschähe ähnliches der
Wasserpest, im dritten vertrugen sich beide Arten, und es entstünde,
scheinbar aus dem Nichts, eine reizende Vegetation der zierlich und armleuchterartig
verzweigten Grünalge Nitella flexilis. So verschieden nähmen
sich die drei Becken aus; sie hätten auch ganz verschiedene biologische
Eigenschaften, wären verschiedenen Tieren verschieden günstig,
kurz, obschon unter gleichen Voraussetzungen angelegt, hätte doch
jedes Becken seine eigene Welt entwickelt.
Es bedarf eines gewissen Taktgefühls und der Selbstbeherrschung,
einem Aquarium "seinen Willen zu lassen"; sogar wohlgemeinte
Eingriffe des Pflegers können da viel vernichten. Natürlich
lässt sich auch ein "schönes" Becken einrichten, mit
künstlichem Nährboden und willkürlich verteilten Pflanzen;
ein Filter wird jede Schlammbildung verhindern und künstliche Durchlüftung
erlaubt es, mehr Fische zu erhalten als es ohne solche Hilfen möglich
wäre. Die Pflanzen sind dann eben nur Zierrat, da die Tiere ihrer
gar nicht bedürften, sie hätten an der künstlichen Sauerstoffzufuhr
genügend, um leben zu können. Über den Geschmack lässt
sich streiten. Ich jedenfalls verstehe unter einem Aquarium eine Lebensgemeinschaft,
die sich selbst im biologischen Gleichgewicht erhält. Das andere
ist ein "Stall", nämlich ein künstlich gereinigter,
hygienisch einwandfreier Behälter, der nicht Selbstzweck ist, sondern
nur Mittel zur Haltung bestimmter Tiere.
Viel Erfahrung und biologisches Fingerspitzengefühl ermöglichen
es jedoch schon bis zu einem gewissen Grade den allgemeinen Charakter
der Lebewelt zu bestimmen, die sich in einem Aquarium entwickeln soll,
sofern man nämlich Bodengrund, Standort des Beckens, Wärme-
und Lichtverhältnisse und schließlich die tierische Bewohnerschaft
klug wählt. Das ist die höchste Kunst der Aquarienpflege. Einer
ihrer Meister war mein tragisch verstorbener Freund Bernhard Hellmann.
Mit einem seiner Aquarien war ihm eine besonders treffliche Kopie eines
ganz bestimmten natürlichen Lebensraums, nämlich des Altausseer
Sees gelungen: Das Becken war groß, sehr hoch, kühl und nicht
zu nahe ans Licht gerückt, die Vegetation in kristallklarem Wasser
bestand aus glasig lichtgrünen Laichkrautarten, den steinigen Boden
bewuchsen dunkles Quellmoos (Fontinalis) und die zierliche Armleuchterpflanze
(Chara). An größeren Tieren waren nur einige winzige Forellen,
Ellritzen und ein kleiner Flusskrebs eingesetzt, also nicht viel mehr,
als der Bevölkerungsdichte in freiem Gewässer entspricht. Darauf
nämlich muss man sorgfältig achten, will man empfindlichere
Wassertiere auf die Dauer halten und auch zur Fortpflanzung bringen. Die
meisten fremdländischen Zierfische, die man in den Aquarien unserer
Liebhaber zu sehen bekommt, erleichtern uns diese Aufgabe insofern, als
sie ja auch in freier Natur Bewohner kleiner, nicht allzu sauberer Tümpel
sind. Denn der kleine Tropentümpel, dessen Wasser Jahr für Jahr
gleichmäßig warm und stark besonnt ist, lässt sich mit
einem billigen elektrischen Heizgerät an jedem Südfenster leicht
"kopieren", jedenfalls leichter als irgendein Typus unserer
heimischen Gewässer. Deshalb, und nur deshalb, sind Fische unserer
Seen und Bäche unvergleichlich schwieriger zu halten und zu züchten
als viele Tropenfische. Man wird jetzt auch verstehen, warum ich riet,
fürs erste Tiere mit dem beschriebenen rituellen Käscher aus
dem nächsten Tümpel zu holen. Ich habe Hunderte Aquarien gepflegt,
aber das gewöhnlichste, billigste und sozusagen banalste Tümpel-Aquarium
hat immer meine Liebe in besonderem Maße besessen, da seine Wände
die natürlichste und vollkommenste Lebensgemeinschaft umschließen.
Und man kann stundenlang davor sitzen und sich in Gedanken verlieren,
in krausen und klugen, wie man den Flammen des Kaminfeuers nachsinnt oder
dem eilenden Wasser eines Baches. Und man lernt sogar dabei. Würfe
ich in die eine Schale einer Waage alles, was mir in solchen Stunden der
Meditation vor dem Aquarium an Einsicht zuwuchs, und in die andere, was
ich aus Büchern gewann - wie hoch schnellte diese empor!
Konrad Lorenz (aus: "Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und
den Fischen")
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