|   |  Die evolutionäre Auffassung hat - wie jede Erkenntnis auch eine 
        Geschichte. Wie weit lässt sich diese Geschichte zurückverfolgen? 
        Prinzipiell möglich war eine solche Haltung natürlich schon 
        immer; denn auch die Erkenntnistheorie hat ja Hypothesecharakter, und 
        in der Wahl unserer Hypothesen sind wir relativ frei. Aber zur Begründung einer Hypothese müssen eben weitere Bedingungen 
        erfüllt sein, insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Hintergrundwissen, 
        die Prüfbarkeit und der Erklärungswert. Auch W. R. Hamilton, 
        der die Hamiltonsche Form der klassischen Mechanik entwickelt hat, hatte 
        zwar die mathematischen Hilfsmittel, um die Schrödinger-Gleichung 
        und eine Wellenmechanik aufzustellen, aber ihm fehlte sozusagen die empirische 
        Ermächtigung zu einem solchen Schritt; es gab damals keinen Hinweis 
        auf die Welleneigenschaften der Materie. Genauso fehlte Aristarch die 
        Rechtfertigung seiner genialen Intuition in der Erfahrung. So konnten Hypothesen über eine Evolution der menschlichen Erkenntnisfähigkeit 
        erst dann sinnvoll aufgestellt werden, nachdem der Entwicklungsgedanke 
        im 19. Jahrhundert zur Evolutionstheorie ausgebaut worden war (womit den 
        Spekulationen von Empedokles oder Abu'l - Hassan al Massudi [*956] ihre 
        Originalität nicht abgesprochen wird). Wir haben gesehen, dass das Problem der angeborenen Ideen in der Geschichte 
        der Erkenntnistheorie eine Schlüsselrolle spielt. Aber schon die 
        Frage, ob die angeborenen Strukturen der Erkenntnis auch eine biologische 
        Bedeutung haben, kann sinnvoll erst diskutiert werden, seit es eine biologische 
        Wissenschaft gibt, die nicht nur wie bei Aristoteles oder Linne beschreibend, 
        sondern auch erklärend ist. Deshalb sind Antworten auf solche Fragen 
        erst spät (nach 1900) zu finden und auch dann relativ selten. Die biologische Bedingtheit der subjektiven Erkenntnisstrukturen wird 
        bejaht von:Philosophen: Nietzsche, Simmel, Spencer, Peirce, Baldwin, F. C. 
        S. Schiller, Russell, Quine, Popper;
 Physikern: Helmholtz, Poincaré, Mach;
 Biologen: Haeckel, v. Bertalanffy, Rensch, Lorenz, Mohr, Monod;
 Psychologen: Ziehen, Piaget, Rohracher, Campbell, Furth, Lenneberg;
 Anthropologen: Levi-Strauss, Schwidetzky;
 Sprachwissenschaftlern: Chomsky, Katz.
 In der Frage nach einer Evolution der Erkenntnisfähigkeit beschränken 
        sich die Naturwissenschaftler, vertreten vor allem durch Physiologen, 
        Genetiker, Evolutionstheoretiker und Verhaltensforscher, meistens auf 
        einige allgemeine Bemerkungen, weil sie sich nicht zu weit in eine fremde 
        Disziplin, die Erkenntnistheorie, vorwagen wollen. Umgekehrt haben auch die Erkenntnistheoretiker und andere Philosophen 
        den evolutionären Standpunkt nur selten und nur andeutungsweise berücksichtigt. 
        "Dass das Studium der Wahrnehmung vom evolutionären Standpunkt 
        die meisten Erkenntnistheoretiker nicht beeinflusst hat, ist eines der 
        vielen Symptome für die fortdauernde Trennung der Philosophie von 
        den Naturwissenschaften" (Shimony: "A perception from an evolutionary 
        point of view", J. Philosophy 1971). Wir stellen für beide Seiten einige Zitate zusammen und merken dabei 
        an, aus welchem Fach der jeweilige Autor stammt. Bei jedem wäre noch 
        " . . und Naturphilosoph" hinzuzudenken.' Durch natürliche Auslese hat sich unser Geist an die Bedingungen 
        der Außenwelt angepasst, er hat diejenige Geometrie übernommen, 
        die für die Art die vorteilhafteste ist; mit anderen Worten: die 
        bequemste. (Poincaré, Physiker, 1914)
 Der richtige Kern des Kantischen Apriorismus ist . . ., dass der Mensch 
        tatsächlich heute mit gewissen Anschauungs- und Denkformen an die 
        Erscheinungen herangeht und sie ihnen gemäß ordnet. Diese Formen 
        müssen sich aber selbst . . . erst an Hand der Erfahrung gebildet 
        haben, sie sind entstanden eben in der fortwährenden Auseinandersetzung 
        des Menschen mit der Natur. (Bavink, Naturwissenschaftler, 1949)
 Die Kategorien der Erfahrung sind in der biologischen Entwicklung 
        entstanden und müssen sich fortwährend im Kampf ums Dasein bewähren. 
        Würden sie nicht irgendwie der Realität entsprechen, so wären 
        angemessene Reaktionen unmöglich, und solche Organismen würden 
        durch die Auslese schnell eliminiert. (v. Bertalanffy, Biologe, 1955)
 Es hat eine Zeit gegeben, da die Leistungsfähigkeit des Gehirns 
        durch biologische Wandlungen gesteigert wurde und dementsprechend auch 
        die genetische Leistungsfähigkeit zunahm. Das aber hat vor etwa 500000 
        Jahren aufgehört. Seit damals hat der angeborene Verstand nur wenig 
        - wenn überhaupt - zugenommen. Der menschliche Fortschritt ist seither 
        von erworbenen Fähigkeiten abhängig, die durch Tradition und 
        Belehrung weiter vermittelt werden. (Russell, Philosoph, 1963)
 Wenn man zu Recht der Ansicht sein darf, dass das Denken auf einem 
        Vorgang subjektiver Simulation beruht, dann ist anzunehmen, dass die hohe 
        Entfaltung dieser Fähigkeit beim Menschen das Ergebnis eines Evolutionsprozesses 
        ist, in dessen Verlauf die Leistungsfähigkeit dieses Vorgangs und 
        sein Wert fürs Überleben durch die Auslese im konkreten Handeln 
        erprobt wurden. (Monod, 
        Biologe, 1971)
 Was instinktmäßige oder - strenger - angeborene Erkenntnis 
        genannt wird, geht auf ein Lernen zurück, das sich in den Jahrtausenden 
        der biologischen Evolution vollzog, der biologischen Evolution im Unterschied 
        zum individuellen Lernen, mit dem dieser Begriff gewöhnlich verknüpft 
        ist. In dieser evolutionären Perspektive gewinnen die Ausdrücke 
        "instinktmäßig" und "angeboren" eine wissenschaftliche 
        Bedeutung und verlieren die negative Rolle, in der sie bloß eine 
        Bemäntelung der Unwissenheit darstellen. (Furth, Psychologe, 1972)
 Der Gedanke einer Evolution der Erkenntnisfähigkeit ist also mehrfach 
        ausgesprochen worden. Trotzdem wurde diese Verkoppelung von Evolutions- 
        und Erkenntnistheorie kaum ausführlich untersucht. Eine erfreuliche 
        und wichtige Ausnahme bilden verschiedene Arbeiten von Konrad Lorenz. 
        Seinen erkenntnistheoretischen Interessen und seiner Königsberger 
        Zusammenarbeit mit Eduard Baumgarten im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft 
        zwischen Geisteswissenschaft und vergleichender Psychologie sind zwei 
        Arbeiten zu verdanken (1941, 1943), die genau die angedeutete Verkoppelung 
        vornehmen. Lorenz hat auch in späteren Veröffentlichungen ausdrücklich 
        auf den Gedankenkreis einer evolutionären Erkenntnistheorie hingewiesen. 
        Er bleibt dabei allerdings insofern Kantianer, als er Kants Kategoriensystem 
        akzeptiert und nur nach dessen Herkunft fragt: Die Entdeckung des Apriorischen ist jener Funke, den wir Kant verdanken, 
        und sicherlich ist es unsererseits keine Überheblichkeit, an Hand 
        neuer Tatsachen eine Kritik an der Auslegung des Entdeckten zu üben, 
        wie wir es bezüglich der Herkunft der Anschauungsformen und Kategorien 
        an Kant taten. (Lorenz, 1941) Wie wir gesehen haben, ist jedoch der Gedanke der evolutionären 
        Erkenntnistheorie zunächst unabhängig von einem speziellen Kategoriensystem 
        oder von speziellen apriorischen Erkenntnisstrukturen. Unter der Voraussetzung, 
        dass es solche Strukturen gibt, zeigt sie, wie deren Entstehen und Leistung 
        erklärt werden können. Der hierbei postulierte evolutive Zusammenhang 
        zwischen realen Strukturen und subjektiven Strukturen der Erkenntnis kann 
        dann aber dazu dienen, uns in der Erforschung beider Komponenten zu unterstützen. 
        Er betont z. B. die Bedeutung der Invariantenbildung in Wahrnehmung und 
        Wissenschaft für die Gewinnung objektiver Erkenntnis, den empirischen 
        Charakter der Hypothesen über angeborene Strukturen oder den heuristischen 
        Wert von Fehlleistungen unseres Erkenntnisapparates. Die evolutionäre Erkenntnistheorie ermöglicht also ein besseres 
        Verständnis der Evolution wie der Erkenntnistheorie, soweit sie mit 
        der wissenschaftlichen Methode zusammenfallen. (Popper, 1973) Trotzdem gehen nur wenige Autoren (darunter viele Biologen) auf diese 
        Probleme ein, und erst zu Ende der 60er Jahre wird der Gedanke einer Evolution 
        der Erkenntnisfähigkeit wirklich aufgegriffen: 1955 v. Bertalanffy: An essay an the relativity of categories;1959 Campbell: Methodological suggestions from a comparative psychology 
        of knowledge processes;
 1967 Piaget: Biologie et connaissance (deutsch 1974);
 1967 Mohr: Wissenschaft und menschliche Existenz;
 1968 Rensch:  Biophilosophie;
 1968 Chomsky:  Language and mind (deutsch 1970);
 1969 Furth: Piaget and knowledge (deutsch 1972);
 1970 Monod: Le hasard et la nécessité (deutsch 1971);
 1970 Shimony: Perception from an evolutionary point of view;
 1972 Popper: Objective knowledge (deutsch 1973);
 1973 Lorenz: Die Rückseite des Spiegels;
 1974 Campbell: Evolutionary epistemology.
 Man kann also behaupten, dass die Probleme der evolutionären Erkenntnistheorie 
        in der philosophischen Diskussion erst jetzt diskutiert werden. Hätte 
        nicht Popper diesen Gedanken (von Campbell) aufgegriffen, müßte 
        man sogar feststellen, dass die Initiative noch ganz auf der Seite der 
        Einzelwissenschaften liegt. Quelle: Gerhard Vollmer: "Evolutionäre Erkenntnistheorie"        Verlag S. Hirzel, Stuttgart. (mit Erlaubnis des Autors)
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