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Warum "Intelligentes Design" keine Naturwissenschaft istVON HANSJÖRG HEMMINGER
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Die Bewegung für ein "intelligentes Design" (ID) geht davon aus, dass Naturprozesse, wie sie die biologische Evolutionstheorie voraussetzt, keine Innovationen bzw. neue "Designs" von Lebewesen hervorbringen können. Dafür sei eine "geistige Verursachung" nötig, also eine über- oder außer-natürliche Intelligenz, die lenkend in die Evolution eingreift. Michael Behe, einer der wichtigsten ID-Vertreter, ist der Ansicht, dass sich ID biologisch beweisen ließe. Sein neues Buch "Darwin devolves" (2019) wurde von Kollegen seiner eigenen Universität (Lang & Rice 2019) so besprochen: "Indem wir Behes letztes Buch besprechen, laufen wir Gefahr, seine Ideen bekannt oder – noch schlimmer – glaubhaft zu machen. Bücher wie "Darwin devolves" müssen dennoch offen bekämpft und widerlegt werden, sogar wenn man dabei riskiert, ihm Bekanntheit zu verschaffen... Denn Wissenschaftler haben eine moralische Verantwortung dafür, dass die zentralen Konzepte unserer Arbeitsgebiete in der Öffentlichkeit, und zu Studierenden, verständlich und genau kommuniziert werden." (Übers. vom Autor) Anders gesagt, Behes Kollegen betrachten ihre Auseinandersetzung mit ID nicht als Teil einer naturwissenschaftlichen Diskussion, sondern als die moralisch gebotene Abwehr einer Täuschung der Öffentlichkeit. Sie sind damit nicht allein. Die meisten Evolutionsbiologen und Wissenschaftstheoretiker befassen sich von vornherein nicht mit ID. Umgekehrt behaupten ID-Vertreter, die Wissenschaft lehne ihre Position aus ideologischen Gründen ab. Damit sagen sie, dass nicht ID, sondern die Evolutionstheorie eine Täuschung der Öffentlichkeit sei. William Dembski (1998) und Nancy Randolph Pearcey (2004) meinen wie viele andere ID-Vertreter, dass es willkürlich sei, "geistige Verursachung" aus der Naturwissenschaft auszuschließen. Das trifft nicht zu. Der sogenannte "methodische Naturalismus" der Naturwissenschaft ergibt sich zwingend aus der naturwissenschaftlichen Methodologie. Dazu später mehr. Die Alternative ist klar: Entweder ist die biologische Evolutionstheorie im Kern keine Wissenschaft, sondern eine als Wissenschaft getarnte atheistische Ideologie. Oder ID ist keine Wissenschaft, sondern eine als Wissenschaft getarnte fundamentalistische Ideologie. Zwischen ID und der Evolutionstheorie, wie sie die scientific community vertritt, gibt es keine naturwissenschaftliche Zwischenposition. (Wir reden hier nicht über Naturphilosophie und Theologie.) Man muss sich entscheiden, was gute Wissenschaft ist und was nicht, so sehr das harmoniebedürftigen Zeitgenossen zuwider ist, und so gerne man es vielleicht aus theologischen Gründen anders hätte. Es gibt wenig deutschsprachige Fachliteratur dazu, aber immerhin eine Auseinandersetzung mit ID im Internet (Neukamm 2018) mit zahlreichen Literaturhinweisen. Sie bezieht sich auf einen Grundsatzartikel der kreationistischen Studiengemeinschaft "Wort und Wissen" (Junker & Widenmeyer 2016), der die Position der ID-Bewegung naturwissenschaftlich zu begründen versucht. Der folgende Text ist kürzer gehalten mit der Absicht, die Kritik an ID so zu begründen, dass sie ohne naturwissenschaftliche Spezialkenntnisse verständlich wird. Vom Kurzzeit-Kreationismus zu "intelligent design"Die ID-Bewegung entstand nicht aufgrund von naturwissenschaftlichen Forschungen. Ihr Ziel war und ist die Durchsetzung eines protestantisch-fundamentalistischen Weltbilds. Der Ausgangspunkt war im Jahr 1968 eine Entscheidung des Supreme Court in den USA, die den damaligen Kurzzeit-Kreationismus aus staatlichen Schulen verbannte. 1987 wurde die Entscheidung in einem weiteren Fall (Louisiana) bestätigt. Evangelikale Akteure benötigten nun folglich passenden Bildungsstoff ohne direkten Bezug zum Bibelfundamentalismus. Mit "intelligent design" meinte man, einen Gottesbeweis aus der Natur (teleologischen Gottesbeweis) lehren zu können, ohne dabei vom biblischen Gott zu sprechen. Der bereits existierende Entwurf eines kreationistischen Schulbuchs ("Of Pandas and People", erschienen 1988) wurde in diesem Sinn geändert. An über hundert Stellen wurden die Worte Schöpfer, Schöpfung, Kreationismus und Schöpfungswissenschaft schlichtweg durch "intelligentes Design" ersetzt. Damit wollte man das Verbot des obersten Gerichts umgehen. Der Versuch scheiterte jedoch, auch ID ist zumindest formal in staatlichen Bildungseinrichtungen nicht zulässig. Dennoch wird ID im privaten Bildungswesen, das in den USA eine wichtige Rolle spielt, häufig gelehrt. Unter der Hand ist neben ID sogar der alte Kurzzeit-Kreationismus in vielen Regionen der USA auch in staatlichen Schulen präsent. Politisch und kulturell wird ID vor allem vom 1990 gegründete Discovery Institute in Seattle propagiert, das mit der Republikanischen Partei verbunden ist. Sein wichtigster Zweig, das Center for Science and Culture, betont die zerstörerische Wirkung der Evolutionstheorie auf die Werte der Familie, der Moral und des Staats. Ein Bestseller von Jonathan Wells (2000) belegt (neben vielen anderen Quellen) von Anfang an eine enge Verbindung von ID und Rechtspopulismus in den USA. Evolutionskritik ist Teil einer Agenda, zu der die Leugnung des menschengemachten Klimawandels ebenso gehört wie die Verteidigung des privaten Waffenbesitzes, Polemik gegen den Naturschutz und gegen öffentliche Gesundheitsfürsorge, mit einem fließenden Übergang zu abwegigen Verschwörungstheorien. Wells publizierte seine Kampfschrift "Icons of Evolution" in einem Verlag, der vor allem konservative politische Schriften verlegt, und bestritt gleich auch noch, dass AIDS durch HIV-Viren verursacht wird. Er gehört, ungeachtet seiner Nähe zu Verschwörungstheorien, zu den wichtigsten Vertretern von ID in den USA und kooperiert u.a. mit William Dembski, dessen angeblich wissenschaftliche Evolutionskritik noch behandelt werden wird. Angesichts der politischen und ideologischen Problematik dieser Bewegung ist die naturwissenschaftliche Diskussion um ID eher zweitrangig. Dennoch lohnt sich der Versuch, denjenigen Mitmenschen und Mitchristen, die von den Argumenten der Bewegung verunsichert oder beeindruckt werden, eine kritische Perspektive zugänglich zu machen. "Intelligentes Design" in der NaturwissenschaftBevor biologische Argumente ins Spiel kommen, muss eine methodologische Frage beantwortet werden: Kann eine naturwissenschaftliche Theorie eine geistige Verursachung von Naturvorgängen postulieren? Naturwissenschaft ist ein Unternehmen, das aufgrund sinnlich vermittelter Erfahrung (empirisch) Wissen über die Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt sammelt, der res naturalia. Das Ergebnis besteht einerseits in "beschreibendem Wissen" – zum Beispiel aus dem Fossilbericht über die Vorfahren von Homo sapiens – und andererseits aus Theorien, die beschriebene Phänomene und Prozesse kausal, also ursächlich, erklären. Zum Beispiel wird die zeitliche Abfolge und der damit verbundene Wandel der vormenschlichen Fossilien damit erklärt, dass sie voneinander abstammen, und dass in ihrer Stammesgeschichte der Mechanismus von Variation und Selektion am Werk war (Evolutionstheorie). ID vermeidet es in der Regel, anders als der Kurzzeit-Kreationismus, das beschreibende Wissen der Naturwissenschaft anzugreifen. Die vormenschlichen Fossilien und ihre stammesgeschichtliche Einordnung werden im Prinzip akzeptiert. Aber ID behauptet, man könne und müsse die Entstehung zweckmäßiger und komplexer Merkmale mit intelligenter Planung erklären. Zum Beispiel sei die rund 7 Millionen Jahre (eine evolutionär relativ kurze Spanne) dauernde Evolution vom Großhirn der Vormenschen zum viel größeren und funktional komplexeren Großhirn des Homo sapiens nur durch geistige Verursachung möglich gewesen. Nun gehören ein Geist, der in die Natur eingreift, nicht zu den res naturaliaund kann naturwissenschaftlich weder beschrieben noch erklärt werden - jedenfalls nicht in dieser unserer Welt. Es sind Wirklichkeiten vorstellbar, in denen geistige Entitäten oder supranaturale Wesen regelhaft und damit empirisch erforschbar wirken. In einer solchen Welt würde Magie funktionieren. Allerdings ist unsere Welt offenbar nicht von solcher Art. Daher ist das Ausklammern geistiger Ursachen in Form magischer Effekte keine willkürliche Vorentscheidung, sondern durch die Erfahrung mit der uns umgebenden Wirklichkeit gerechtfertigt. Geistige Verursachung kann daher auch nicht als ein theoretisches Konzept verstanden werden, wie zum Beispiel das physikalische Feld oder die biologische "fitness". Denn falls es den regelhaft wirkenden Geist gäbe, wäre er zwar kein natürliches Ding, aber ontologisch gesehen ein Ding, das mit den natürlichen Dingen in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung stehen muss. Die einzige Möglichkeit, ID empirisch zu prüfen wäre eine Beschreibung dessen, wie der Designer kausal auf die natürlichen Dinge einwirkt. Werden auf übernatürliche Weise DNA-Sequenzen verändert? Oder wird die Umwelt einer Spezies so verändert, dass die richtigen Selektionsfaktoren die Stammesgeschichte lenken? Oder ist die DNA der Lebewesen von vornherein so raffiniert konstruiert, dass die gewünschten Ergebnisse entstehen? Anders gesagt: Das, was der Designer tut, müsste in Form von Anfangs- und Randbedingungen einer Evolution beschrieben werden. Bemerkenswerterweise jedoch weigern sich ID-Proponenten strikt, überhaupt irgend eine Aussage über den Designer und die Modalitäten seines Wirkens zu machen. Menschliche und übermenschliche IntelligenzBlicken wir auf die einzige uns bekannte designfähige Intelligenz, die es in der Natur gibt, die menschliche. Menschen bauen zum Beispiel Kläranlagen, einschließlich künstlicher Verwirbelung und Sauerstoffeinleitung. Was dadurch im Abwasser geschieht, wird von chemischen und biologischen Theorien erklärt. Aber die Existenz und die Struktur der Kläranlage wird nicht von Chemie und Biologie erklärt. Sie ist Design, nämlich ein Produkt technischer Kultur. Warum sie so ist, wie sie ist, entzieht sich der Naturwissenschaft. (Dazu müsste man die Kulturevolution von Homo sapiens, die unter anderem zu Kläranlagen führte, komplett naturwissenschaftlich erklären können, und das ist unmöglich.) Die Naturwissenschaft kann nur deshalb erklären, wie die Kläranlage in die natürliche Abwasserklärung eingreift, weil sie weiß, welche Bedingungen von dieser Technik gesetzt bzw. verändert werden. Sie verfügt über das beschreibende Wissen, das die ID-Bewegung über ihren Designer nicht liefern kann. Denn falls es übernatürliche Interventionen in die Stammesgeschichte der Lebewesen gab: Woher wollen die ID-Vertreter wissen, wie die aussahen? Hat ihnen der geheimnisvolle Designer ein Protokoll hinterlassen? Nichts hindert die ID-Bewegung daran, auch die natürliche Klärung verschmutzten Wassers in einem Bachlauf damit zu erklären, dass die dabei beteiligten ökologischen Wechselwirkungen Design seien. Ist es nicht plausibel, dass ein derart komplexes und zweckmäßiges System intelligent konstruiert wurde? Wer will das beweisen oder widerlegen, solange die Frage, was eine planende Intelligenz dabei getan hat, nicht oder nur mit Spekulationen beantwortet wird? Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, behaupten ID-Vertreter, dass man intelligente Planung unabhängig von den sonstigen Eigenschaften des Planers an Merkmalen seines Produkts erkennen könne. Intelligenz hinterließe in der Natur "Design-Indizien". Wäre das richtig, könnte man diese Indizien bei Lebewesen auffinden und auf eine intelligente Planung schließen. In Wirklichkeit ist das aber bei Lebewesen nicht möglich, sondern nur bei vom Menschen hergestellten Gegenständen, und oft auch dann nur, wenn man mehr über ihre Erzeugung weiß, als dass sie geplant erfolgte. Die Kläranlage lässt einen sicheren Rückschluss darauf zu, dass sie technischen Ursprungs ist, weil ihr alle Eigenschaften fehlen, die eine natürliche Entwicklung ermöglichen würden, also Selbstorganisation, Reproduktion und Variation über mehrere Generationen. Zusätzlich kennen wir keine Naturprozesse, die Kläranlagen hervorbringen. Die Ökologie eines Baches lässt keinen Rückschluss auf intelligente Planung zu, weil die Bestandteile des Systems Lebewesen sind, die sich entwickeln und verändern, und die dabei in hoch komplexer Weise aufeinander und auf die unbelebte Umwelt einwirken. Das Ökosystem eines Bachs ist "zweckmäßig" und komplex. Die Kläranlage ist zweckmäßig und (sind wir großzügig) ebenfalls komplex. Aber genau genommen sind diese beiden Begriffe bei einer Maschine und bei Lebewesen nicht gleichbedeutend. Der Zweck der Kläranlage ist offensichtlich von außen festgelegt, Einzelteile wie die Luftpumpe dienen diesem äußeren Zweck. Die Süßwasserökologie ist ein System, das sich selbst organisiert, reguliert und sich plastisch verändert. Jedes Lebewesen in ihm dient einem "inneren Zweck", nämlich sich durch die Interaktion mit dem Gesamtsystem zu erhalten, sich zu entwickeln und zu reproduzieren. Es ist daher üblich, im ersten Fall von Teleologie, im zweiten von Teleonomie zu sprechen. Michael Behe und die unreduzierbare KomplexitätWegen der Schwierigkeit, geistige Verursachung als naturwissenschaftliches Konzept zu behandeln, ist die ursprüngliche und häufigste Begründung für ID anderer Art. Sie hat die logische Form einer reductio ad absurdum. Es wird nämlich behauptet, dass der Versuch, die komplexen, sinnvollen Eigenschaften der Lebewesen (zum Beispiel ihre Süßwasserökologie) durch Naturprozesse zu erklären, zu einem absurden Ergebnis führt. Wir werden darauf zurückkommen. Aber nehmen wir einmal contra factum proprium an, der Beweis sei gelungen, dass die Evolutionstheorie die Entstehung zweckmäßiger Strukturen und Funktionen nicht erklären kann. ID würde daraus nicht folgen. Mehrere andere Möglichkeiten lägen näher, zum Beispiel der gute, alte Vitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, oder ein Stufenbau der Natur, wie ihn Esoteriker annehmen, in dem höhere, feinstoffliche Seinsebenen die Baumuster für niedere, materielle Ebenen enthalten. Es gibt keinen Weg, von der Lücke auf den Lückenbüßer zu schließen, solange man ein rein negatives Argument für die Lücke entwickelt. Werfen wir dennoch einen Blick auf dieses Argument. Michael Behe stellte bereits 1996 in dem Buch "Darwins Black Box" die Behauptung auf, dass die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung der sinnvoll konstruierten Organe und Verhaltensweisen der Lebewesen durch Mutations- und Selektionsvorgänge so gering sei, dass sie als unmöglich gelten müsse. Sein klassisches Beispiel ist die Flagelle, ein Organ, mit dessen Hilfe sich manche Bakterien in Flüssigkeit aktiv bewegen können. Die Bewegung wird von einer "molekularen Maschine" ausgeführt, die aus rund 40 Proteinen besteht. Diese Maschine sei "unreduzierbar komplex": "Ein unreduzierbar kompexes System kann nicht direkt... dadurch erzeugt werden, dass man am Vorgängersystem geringe, aufeinander folgende Veränderungen vornimmt, weil jedes Vorgängersystem zu einem unreduzierbar komplexen System, dem ein Teil fehlt, per Definition nicht funktioniert" (Behe 1996:39). Gelingt damit die reductio ad absurdum? Nein! Die Evolutionstheorie geht nicht von einem Zusammenbau eines Organs wie an einem Fließband aus, sondern von einer stufenweisen Entfaltung funktionaler Strukturen, einschließlich von Funktionswechseln. Schließlich verläuft die individuelle Entwicklung (Ontogenese) nicht anders. Ein Mensch entsteht auch nicht, indem man seine Organe eines nach dem anderen anbaut. Sie wachsen und entfalten sich aus Vorstufen, und der Mensch ist vom Embryo angefangen in jedem Stadium lebens- und funktionsfähig. Das Beispiel der Flagelle wurde von Kenneth Miller & Kollegen (s. Neukamm 2007) untersucht. Sie konnten zeigen, dass Vorstufen nicht nur denkbar, sondern sogar praktisch bekannt sind. Dabei dienen sie nicht der Bewegung der Zelle, sondern zuerst der Regulation des Stoffdurchtritts durch die Zellmembran, dann der Übertragung von Substanzen auf Wirtszellen. Solche Funktionswechsel spielen in der Evolution eine wichtige Rolle. Die evolutiven Schritte hin zu einer Flagelle sind sicherlich komplex, aber sie sind ebenso sicher nicht unabhängig, sondern jeder Schritt hängt von dem Ergebnis des voraus laufenden Schrittes ab. Drossel & Schütz (2007) haben dargelegt, dass es aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist statistisch zu berechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Organ sich auf diesem Weg bildet. In der Evolution sind sehr wahrscheinliche und sehr unwahrscheinliche Ergebnisse gleichermaßen möglich. Fragt man nach der Wahrscheinlichkeit für die Entstehung irgendeines funktionierenden Flagellenorganells bei Bakterien, spricht viel für eine hohe Wahrscheinlichkeit. Fragt man nach der Entstehung der konkreten Struktur mit ihren Details, ist die Wahrscheinlichkeit vermutlich gering - ebenso ist die Wahrscheinlichkeit für eine jede Lottozahl-Kombination extrem klein. Dennoch gewinnt jede Woche eine solche Zahl. In Experimenten wurde nachgewiesen, dass man in relativ kurzer Zeit aus zufällig synthetisierten Proteinen durch einen Selektionsprozess ein Protein entwickeln kann, das im Stande ist, ATP (der Energieträger der Zelle) an sich zu binden (Neukamm 2007:210ff). Die Unerklärbarkeit eines solchen Proteins reduziert sich auf den Sachverhalt, dass seine evolutionäre Entstehung oft unbekannt, in anderen Fällen unsicher, und bis ins letzte Detail grundsätzlich nicht aufklärbar ist. Dass Naturwissenschaftler etwas nicht wissen, noch nicht wissen oder nicht sicher wissen, liefert aber nur ein logisch unzulässiges argumentum ad ignorantiam, also ein Scheinargument aus Nichtwissen. Der Schritt vom Nichtwissen zur Unmöglichkeit ist unlogisch, denn Nichtwissen ist kein Argument, sondern ein Zustand. Als Erklärung konkreter Phänomene leistet die Evolutionstheorie das, was man von ihr erwarten kann. Dembskis Design-IndizienZurück zu den bereits erwähnten Design-Indizien bei Lebewesen, die angeblich auf eine geistige Verursachung schließen lassen. Wir wollen einen der ersten und immer noch bekanntesten Versuche näher betrachten, die Existenz solcher Indizien zu beweisen. Nach William Dembski (1998) wird die intelligente Herkunft eines Ereignisses oder Musters in der Natur dadurch belegt, dass es "kontingent, komplex und spezifiziert" ist. Das Merkmal der Kontingenz ist dann vorhanden, wenn das Naturphänomen viele mögliche Zustände annehmen kann, so dass man ihm eine Wahrscheinlichkeit kleiner als eins zuweisen kann. Das Merkmal der Komplexität bedeutet, dass ein Ereignis oder ein Muster nicht durch das Zusammentreffen von unabhängigen Zufallsereignissen zustande kommen kann, weil das Universum dafür nicht groß und alt genug ist. Aus Gründen, die hier nicht erklärt werden müssen, ist eine Information von 498 Bit oder mehr in diesem Sinn komplex. Allerdings ist es trivial, dass Lebewesen diese beiden Eigenschaften aufweisen. Ihre Merkmale sind selbstverständlich nicht durch unabhängige Zufallsereignisse entstanden. Sie könnten auch etwas anders, manchmal sogar sehr anders sein, und würden dennoch funktionieren. Und sie entsprechen viel mehr als 498 Bit Information. Dembskis Argument steht und fällt mit der Annahme, dass sein drittes Merkmal, die Spezifizierung, nur durch ID entstehen kann. Ein spezifiziertes Ereignis oder Objekt kann mit einem anderen, von ihm unabhängigen System funktional interagieren. Beide müssen dafür Eigenschaften haben, die aufeinander abgestimmt sind [1]. Das trifft auf die Flagelle zu, die in einer Flüssigkeit (aber nirgends sonst) der Fortbewegung dient. Aber auch diese Eigenschaft gehört zu den allgemeinen Merkmalen des Lebendigen und benötigt keine intelligente Planung. Bereits Orgel & Miller (1974) definierten "spezifizierte Komplexität" als kennzeichnend für lebender Organismen im Unterschied zu unbelebten Dingen. Jede Art von Interaktion von kontingenten und komplexen Mustern, die unter Energieaufwand zusätzliche Komplexität erzeugt, spezifiziert diese Muster. Genau das geschieht in der Evolution, aber keineswegs nur dort. Ein Baumstamm bildet, wenn er in gemäßigten Breiten wächst, mit seinen Jahresringen das wechselnde Klima seines Standorts ab. Das Ringmuster ist kontingent und komplex, denn es könnte (bei anderem Klimaverlauf und anderen Wuchsfaktoren) ganz anders sein, und es enthält weit mehr als 498 Bit Information. Es ist auch spezifiziert, denn es bildet ein Muster ab, das man unabhängig von den Baumringen anderswo messen kann, zum Beispiel in Gewässersedimenten. Solche Wechselwirkungen machen den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Dingen aus. Was Dembski wie ein Argument für ID präsentiert, ist lediglich eine Wiederholung der Behauptung, das Leben sei so kompliziert und so zweckmäßig, dass es nicht durch Naturprozesse entstehen könne. Die Behauptung bleibt so falsch wie zuvor. Zurück zur KläranlageFalls eine übernatürliche Intelligenz auf Naturprozesse einwirkt, können wir ihr Tun nicht mit den Mitteln der Naturwissenschaft aus ihnen heraus präparieren. Dass es keine intelligenten Einwirkungen gibt, können wir umgekehrt nicht durch die Analyse von Naturprozessen beweisen. Zurück zur Abwasserklärung: Stellen wir uns einen Fall vor, in dem die Klärung des Abwassers im Bach dadurch beschleunigt wird, dass aufgrund der geologischen Verhältnisse sauerstoffreiches Quellwasser in seinen Lauf stürzt, das Wasser verwirbelt und mit Sauerstoff anreichert. In einem anderen Fall wird dem belasteten Bachlauf eine gleiche Menge Sauerstoff durch eine Kläranlage zugeführt, und das Wasser wird maschinell verwirbelt. Im ersten Fall haben wir es mit einem Naturprozess zu tun, im zweiten mit gezieltem, intelligentem Einwirken. Durch eine biologische Untersuchung des Wasserzustands ober- und unterhalb der Sauerstoffzufuhr kann man feststellen, dass in den Flusslauf unter Verwirbelung Sauerstoff eingeleitet wurde. Aber es ist nicht möglich auf diese Weise festzustellen, ob das "geplant" oder auf natürliche Weise geschah. Man muss schlicht nachschauen, was der Fall ist. Dass genau an dieser Stelle Quellwasser herabstürzt, ist a priori genau so möglich, und genau so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, wie dass jemand eine Kläranlage gebaut hat. Die Quelle ist ein unreduzierbar komplexer ökologischer Faktor, weil zahlreiche geologische und klimatische Sachverhalte zusammen kommen müssen, dass sie genau hier mit genau dieser Stärke Sauerstoff liefert. Das widerspricht in keiner Weise der Tatsache, dass sie durch Naturprozesse entstand. Alle pseudowissenschaftlichen Winkelzüge helfen der ID-Bewegung nichts. Wenn sie keinen Designer und keinen geistigen Verursacher präsentieren kann, so wie ein Süßwasserökologe die Kläranlage präsentieren kann, solange sie also keinen Wirkmechanismen oder direkte Indizien von Planung aufzeigen kann, ist ID keine Naturwissenschaft. Wissenschaftlich ist der Fall damit erledigt. Aber theologisch lässt sich mehr dazu sagen. Die ID-Bewegung hat das Ziel, den biblischen Schöpfungsglauben plausibel zu machen. Genau das tut sie aber nicht, selbst dann nicht, wenn man ihrer Pseudowissenschaft glaubt – was viele Menschen mit gutem Willen tun. Ein Gott, dessen Methode des Welthandelns wir mit Hilfe der Naturwissenschaft auf die Spur kommen können, ist nicht der Gott, von dem es in der Bibel heißt, dass "der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende." (Prediger 3,11). Der große, unergründliche biblische Gott ist im protestantischen Fundamentalismus und im Rechts-Evangelikalismus nicht erwünscht. Sie wollen einen verfügbaren Gott, der politisch und moralisch eindeutig auf ihrer Seite ist. Denn nur so können sie behaupten, sie kämpften für Gott, während sie in Wahrheit für sich selbst und ihre eigene Geltung kämpfen. Oder sie kämpfen – um dieses Motiv zuzugestehen - aus Angst um ihren Glauben für dessen ideologische Absicherung. Der biblische Gott jenseits unseres Wissens und Denkens taugt allerdings nicht für christliche Ideologien. Die Beziehung des glaubenden Menschen zum göttlichen "Du" beruht auf einer Gewissheit ganz anderer Art. Politisch lässt sich mit dem unergründlichen Gott schon gar nichts anfangen. Denn die Beziehung zu ihm beschränkt alle menschlichen Macht- und Wissensansprüche. Will man mit Sicherheit religiös recht haben, will man Macht und Geltung unter Berufung auf Gott haben, muss dieser Gott so klein sein wie die "geistige Verursachung" oder wie der "intelligente Planer" der ID-Bewegung. Aber sie sind klägliche Kopfgeburten verglichen mit dem Gott, "der da wohnt in einem Licht, zu dem niemand kommen kann, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann." (1. Timotheus 6,16). Auch durch die Linse der Naturwissenschaft lässt sich dieser Gott nicht in die Karten schauen. Als glaubende Menschen können wir aber darauf vertrauen, dass das Naturgeschehen, wie alles was war, ist und sein wird, ist, in seinen allumfassenden, schöpferischen Willen eingebettet ist und aus ihm entspringt. Hansjörg Hemminger, publiziert im August 2019 |
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