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Ist der menschliche Geist wirklich zuerst die Tabula rasa des strengen
Empiristen? Oder weist er schon bei Geburt gewisse Strukturen auf? In
der Auseinandersetzung um diese Alternative spielen von Demokrit und Platon
bis zu Hume und Kant die "angeborenen Ideen" eine Schlüsselrolle.
Die Antworten hängen vor allem davon ab, was unter angeborenen Ideen jeweils
verstanden wird. Das können Vorstellungen sein oder Begriffe, Kategorien,
Urteile und Vorurteile, Wahrheiten, Schlussgewohn-heiten, logische, moralische
oder Naturgesetze, Instinkte, Anschauungsformen, Er-lebnismuster (Archetypen)
oder Erkenntnisstrukturen.
So gelten als angeboren bei:
Platon: alle abstrakten Ideen (das Gute; Gleichheit)
Aristoteles: Axiome der Logik (Satz vom Widerspruch)
F. Bacon: idola tribus ("Gestaltwahrnehmung")
Hume: Instinkte, Schlussregeln (Folgern aus Erfahrung)
Descartes: erste Prinzipien (eigene Existenz; Gott)
Leibniz: alle notwendigen Wahrheiten (Mathematik und Logik), viele
intellektuelle Ideen (Einheit, Substanz), einige praktische Prinzipien
(Lust suchen, Unlust vermeiden)
Kant: Der "Grund" für die Anschauungsformen und
Kategorien (Möglichkeit der Raumanschauungsformen)
Helmholtz: Raumanschauung (Dreidimensionalität)
Lorenz: Verhaltensmuster, Anschauungsformen Kategorien (Balzverhalten,
Raumanschauung, Kausalität)
Piaget: Reaktionsnormen, kognitive Strukturen (Flächenwahrnehmung)
Jung: Archetypen (Anima, Dualität)
Levi-Strauss: Strukturen (kulinarisches Dreieck)
Chomsky: universale Grammatik (A- über - A-Prinzip)
Bis auf Locke sehen die meisten Denker - soweit sie das Problem überhaupt
behandeln - gewisse Strukturen als angeboren an. Trotzdem konnte nicht
präzisiert werden, was denn unter angeboren zu verstehen sei. So
gerieten der Begriff des Angeborenen und der des Instinktes in Verruf,
weil beide meist als Ausflucht oder als Namen für etwas Unerklärbares,
schlechthin Mysteriöses dienten.
Es gab eine Zeit, in der "Angeborensein" auf dem Index der
verbotenen Begriffe stand. Inzwischen hat sich in der offiziellen Zensur
der Begriffe vieles geändert, aber es gibt noch immer Wissenschaftler,
die die Annahme von irgendetwas Angeborenem als einen geschickten Trick
ansehen, der den Taschenspieler von "wirklich wissenschaftlichen"
Untersuchungen entbindet.
So erschien im 19. und 20. Jahrhundert die Frage der angeborenen Ideen
als überholt, unbeantwortbar, im negativen Sinne entschieden oder
als Scheinproblem. In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Situation
jedoch grundlegend geändert. Durch die Biologie, vor allem durch
Genetik und Verhaltensforschung, wissen wir heute besser, was angeboren
bedeutet. So sind die Instinkte als Erbkoordinationen, als angeborene,
artspezifische Handlungsschemata, Verhaltensmuster, Auslöse und Reaktionsnormen
erkannt und der empirischen Forschung zugänglich. "Die Entdeckung
und Beschreibung angeborener Mechanismen ist ein durchaus empirisches
Verfahren und ein integraler Teil moderner wissenschaftlicher Forschung".
Genau genommen müsste man die Begriffe angeboren und ererbt unterscheiden.
Ein Merkmal ist angeboren, wenn es von Geburt an vorhanden ist; es ist
ererbt, wenn es sich auf Grund der Erbanlagen entwickelt. Es gibt Missbildungen,
die durch Verletzung oder Medikamente in der intrauterinen Phase hervorgerufen
werden. Sie sind angeboren, aber nicht erblich. Umgekehrt ist etwa Schizophrenie
erbbedingt, aber nicht angeboren im strengen Sinne, da sie sich meist
erst nach der Kindheit einstellt. Da jedoch die meisten angeborenen Eigenschaften
auch erblich sind und man umgekehrt erbliche Eigenschaften als "in
latentem Zustand angeboren" ansehen kann, wird diese Unterscheidung
nicht so streng gehandhabt. Wir werden deshalb i. a. von angeborenen Strukturen
und nur im Zweifelsfalle von angeboren im strengen Sinne sprechen.
Fragen nach ererbten, also genetisch bedingten Strukturen werden auch
und zwar immer häufiger - auf ethischem, sozialem oder ästhetischem
Gebiet angeschnitten. So vertreten im ethischen Bereich viele Verhaltensforscher
(Lorenz, Ardrey, Morris) und Psychoanalytiker (Freud, Adler, Mitscherlich)
die These, es gebe eine angeborene Aggressivität, einen Aggressionstrieb,
der das Verhalten wesentlich beeinflusst; andere bestreiten das aber."
Hierher gehören auch Fragen moralanalogen Verhaltens bei Tieren und
einer "Biologie der zehn Gebote" (Wickler). Im sozialen Bereich
diskutiert man Gruppenbindung, Brutpflegeinstinkt, Imponiergehabe, Hackordnung,
Naturrecht u. a. In die Ästhetik reichen Fragen des goldenen Schnitts,
der Symmetrie, der Informationspsychologie und -ästhetik; auch die
Malversuche mit Affen und Kleinkindern sind hierfür relevant.
Ebenso gehören manche Themen der Tiefenpsychologie prinzipiell in
diesen Problemkreis, z. B. Jungs Archetypenlehre. Sie sind allerdings
schwieriger einzuordnen.
Grundsätzlich kann man also in allen Bereichen geistiger Aktivität
nach angeborenen Strukturen fragen. Wir beschränken uns jedoch auf
den kognitiven Bereich, also auf das Erkenntnisvermögen. Gibt es
angeborene Strukturen der Erkenntnis? Die Antwort ist bei Tieren einfach
und eindeutig.
Küken, die im Dunkeln ausgebrütet wurden und noch keine Erfahrung
mit Futter haben, picken zehnmal so oft nach kugel- als nach pyramidenförmigem
Futter; eine Kugel ziehen sie einer flachen Scheibe vor. Sie haben also
eine angeborene Fähigkeit, Dreidimensionalität, Gestalt und
Größe wahrzunehmen.
Ein frischgeschlüpftes Fasanenküken "versteht" den
Lockton einer führenden Mutter seiner Art und antwortet auf ihn (und
nur auf ihn) mit intensiven hinwendenden Bewegungen.
Eine Stockente, die isoliert von ihresgleichen aufgezogen wurde, reagiert
auf den Anblick eines Stockerpels (und nur auf diesen) mit ihrem Balzverhalten.
Ein junger Mauersegler, der keinerlei Erfahrung über Raumausdehnung,
optische Tiefenkriterien usw. haben kann, weil er in einer engen Höhle
aufwuchs, in der er nicht einmal die Flügel breiten konnte, ist vom
Augenblick an, da er sich erstmals ins Luftmeer wirft, in vollendeter
Weise fähig, Entfernungen abzuschätzen, verwickelte räumliche
Anordnungen zu verstehen und zwischen Hochantennen und Schornsteinen seinen
Weg zu steuern.
Es gibt bereits eine unbewusste, durch die Veranlagung, durch die Wahrnehmungsorgane
festgelegte Klassifikation der Umwelt aufgrund des Bedeutungsgehaltes
ihrer allgemeinen Merkmale für das Individuum .Ein großer Teil
dieser Klassifikation ist dem Tier angeboren, sie sind ein Teil seiner
Gehirnstruktur, mit der es, wie mit anderen Organen, in die Umwelt eingefügt
ist.
Wie steht es beim Menschen? Es wird betont, dass schon jede Wahrnehmung
weit über die bloße Empfindung hinausreicht. Sie liefert nicht
ein strukturloses Reizmosaik, sondern gibt bereits eine Interpretation
der jeweils verfügbaren Daten. Diese In-terpretation ist eine erkenntniskonstitutive
Leistung. Die Wahrnehmung ist hierin beispielhaft für sämtliche
Erkenntnisweisen.
Nun ist es doch merkwürdig, dass diese konstitutive Leistung des
Erkenntnisapparates bei allen Menschen gleich ist (von Ausnahmen wie Farbenblindheit
einmal abge-sehen), also zwar subjektiv, aber in einem gewissen Sinne
doch auch intersubjektiv. Das wäre zu erklären, wenn alle subjektiven
Erkenntnisstrukturen nur objektive Strukturen nachbildeten. Dieses empiristische
Argument steht uns aber nicht zur Verfügung. Zwar kann der konstruktive
Beitrag des Subjekts zur Erkenntnis in einer Rekonstruktion außersubjektiver
Strukturen bestehen, z. B. im Aufbau dreidimensionaler Gegenstände;
er kann aber auch eigene, der "Realität" nicht entsprechende
Strukturen, wie Farbenkreis, unmögliche Figuren oder die Bewegungsillusion
beim Film, in die Erfahrung einbringen.
Woher kommen diese "echt subjektiven" Erkenntnisstrukturen,
und warum sind sie bei allen Menschen gleich? Der Nachweis, dass einige
dieser Strukturen schon beim Kind, ja beim Neugeborenen vorhanden sind,
böte nicht nur eine Antwort auf diese Frage, sondern auch eine endgültige
Widerlegung des streng empiristischen Standpunktes. Hat der Empirismus
recht, so ist die optische Welt eines Säuglings ein schreckliches,
zweidimensionales Chaos, in dem praktisch nichts konstant bleibt, in dem
Größen, Gestalten, Konturen, Helligkeiten, Farben, sich fortwährend
ändern. Die Ergebnisse der Psychologie beweisen das Gegenteil.
Ob Kinder Farben unterscheiden können, prüft man, indem man
einen farbigen Lichtfleck auf einem andersfarbigen Hintergrund gleicher
Helligkeit hin und her bewegt, z. B. rot auf grün, gelb auf blau
usw. Sogar Säuglinge, die erst 15 Tage alt sind, folgen dem Lichtfleck
mit den Augen, können also Farben unterscheiden. (Gleichzeitig zeigt
dieses Experiment, dass Kinder Bewegung wahrnehmen.) Drei Monate alte
Kinder betrachten länger farbiges Papier als ebenso helles graues
Papier.
Wie steht es mit der räumlichen Wahrnehmung? Versuche mit einem
Graben zeigen, dass im Kriechalter (vorher ist dieser Test nicht durchführbar)
die meisten Kinder Tiefe abschätzen können. Auch zur Tiefenwahrnehmung
von Kleinstkindern (sechs bis acht Wochen) gibt es Experimente, die auf
Skinners Methode der instrumentellen Konditionierung beruhen. Diese Kinder
unterscheiden Gegenstände, die dasselbe Netzhautbild hervorrufen,
aufgrund ihrer Entfernung! Als Tiefenkriterien dient ihnen vor allem die
Parallaxe, außerdem die binokularen Kriterien.
Die angeborenen Strukturen der Gestaltwahrnehmung sind für optische
Muster wieder leichter zu testen, da dem Experimentator wie beim Farbensehen
die Augenbewegung als Kriterium des Interesses dienen kann. Neugeborene
reagieren vom ersten Tag an auf gemusterte Karten stärker als einfarbige.
Kinder zwischen einer und fünfzehn Wochen widmen komplexen Mustern
mehr Aufmerksamkeit als einfachen. Sie betrachten Gesichter länger
als andere Bilder, usw. Es scheint, dass ein Gesicht für sie ohne
vorheriges Lernen ein bedeutungsvolles Objekt ist.
Die Experimente zeigen klar, dass gewisse Fähigkeiten, z. B. Bewegungssehen,
Farbwahrnehmung, Tiefen- und Gestaltwahrnehmung im strengen Sinne angeboren
sind.
Diese modernen Entdeckungen geben somit in einem neuen Sinne Descartes
und Kant gegen den radikalen Empirismus recht, der indessen seit zweihundert
Jahren eine fast ununterbrochene Vorherrschaft in der Wissenschaft behauptet
und den Verdacht der Unwissenschaftlichkeit gegen jegliche Hypothese geschleudert
hat, die das "Angeborensein" der Kategorien der Erkenntnis unterstellte.
Das bedeutet jedoch keineswegs, dass physiologisches Wachstum und Lernen
aus Erfahrung keine Rolle spielten. Vielmehr liegt schon in der Wahrnehmung
ohne Zweifel ein kompliziertes Zusammenspiel von angeborener Fähigkeit,
Reifung und Lernen vor. Auch diese Tatsachen müssen in einer Erkenntnistheorie,
die mit den Ergebnissen der Wissenschaft verträglich sein soll, berücksichtigt
werden.
Quelle: Gerhard Vollmer: "Evolutionäre Erkenntnistheorie" Verlag S. Hirzel, Stuttgart.
(mit Erlaubnis des Autors)
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