Ein Grundproblem der Erkenntnistheorie ist die Erkennbarkeit der Welt.
Nicht nur, ob und wie wir die Welt erkennen, muss untersucht werden, sondern
vor allem, wieso wir sie erkennen können. Die übliche Antwort,
"weil Realkategorien und Erkenntniskategorien (wenigstens teilweise)
übereinstimmen", ist zwar einleuchtend, aber nicht vollständig,
weil wir für eben diese Übereinstimmung eine Begründung
suchen.
Eine Lösung des Problems lässt sich geben, wenn man gewisse
Ausgangsthesen akzeptiert, die zugleich Grundpostulate wissenschaftlicher
Erkenntnis überhaupt zu sein scheinen: Hypothesecharakter aller Wirklichkeitserkenntnis;
Existenz einer bewusstseinsunabhängigen, strukturierten und zusammenhängenden
Welt; teilweise Erkennbarkeit und Erklärbarkeit dieser realen Welt
durch Wahrnehmung, Denken und eine intersubjektive Wissenschaft (hypothetischer
Realismus). Diese Postulate lassen sich nicht beweisen; aber es gibt Argumente,
die sie plausibel machen. Akzeptiert man ferner die Evolutionstheorie
und ihre Anwendbarkeit auf den Menschen, so folgt:
Organe und Verhalten eines jeden Lebewesens dienen seiner Auseinandersetzung
mit der Umwelt. Insbesondere kann das Gehirn als ein Organ zur Verarbeitung
von Reizen und zur Steuerung physiologischer und psychologischer Vorgänge,
vor allem zur Erkenntnisgewinnung, angesehen werden. Seine Strukturen
unterliegen dann - soweit sie genetisch bedingt sind - der biologischen
Evolution. Mutation und Selektion erzwingen dabei eine Anpassung der Erkenntnisstrukturen
an die realen Strukturen. Die dabei entstehende partielle Isomorphie erstreckt
sich vor allem auf die grundlegenden und konstanten Umweltbedingungen,
wenn sie zum Überleben wichtig sind. Die Anpassung braucht allerdings
nicht ideal zu sein. Daraus erklären sich zwanglos die Leistungen
und Beschränkungen unseres Erkenntnisapparates.
Diese These von der Evolution der Erkenntnisfähigkeit ("evolutionäre
Erkenntnistheorie") stützt sich auf zahlreiche Ergebnisse moderner
wissenschaftlicher Forschung. Nicht nur die Evolutionstheorie ist dafür
relevant, sondern auch Genetik und Molekularbiologie, Sinnes- und Hirnphysiologie,
Verhaltensforschung und Psychologie, Sprachwissenschaft und Anthropologie,
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.
Andererseits ist sie geeignet, zahlreiche philosophische Fragestellungen
in neuer Perspektive erscheinen zu lassen. Sie führt zu einer wichtigen
erkenntnistheoretischen Position, nach der wir nicht nur über uns
selbst, sondern auch über die Welt (das Ding an sich) etwas erfahren
können, so dass objektive Erkenntnis möglich ist.
Sie dient der Diskussion der synthetisch-apriorischen Urteile. Der
menschliche Geist ist bei Geburt keine strukturlose Tabula rasa. Gewisse
Erkenntnisstrukturen sind angeboren und insofern a priori und erfahrungskonstitutiv;
sie sind aber phylogenetisch erworben und somit letztlich a posteriori.
Rationalismus und Empirismus bilden jedenfalls nicht den absoluten Gegensatz,
in den sie so oft projiziert werden. In diesen Fragen geht die evolutionäre
Erkenntnistheorie über Kant hinaus und ermöglicht eine Revision
der Transzendentalphilosophie.
Auch die Sprachfähigkeit ist ein Ergebnis der Evolution, woraus
sich die Vorzüge und Grenzen der Sprache erklären. Sie ist weder
ein bloßes Instrument der Informationsübertragung noch "das
Haus des Seins"; Sprache und Erkenntnis stehen in einer Wechselbeziehung,
in der sie sich gegenseitig bedingen und modifizieren.
Schließlich weist die evolutionäre Erkenntnistheorie darauf
hin, dass unsere Erkenntnisfähigkeit nur der "Welt der mittleren
Dimensionen" angepasst ist, an der sie sich in der Evolution bewähren
musste. Diese Tatsache macht Erkenntniskritik notwendig und sinnvoll und
beleuchtet die erkenntniserweiternde Rolle der Wissenschaft. Die Objekte
wissenschaftlicher Erkenntnis liegen zum Teil außerhalb der Makrowelt,
und wir können nicht erwarten, dass die Strukturen und Begriffe unserer
gewöhnlichen Erfahrung dort noch anwendbar sind.
Die evolutionäre Erkenntnistheorie nimmt somit den Menschen in
einer echten kopernikanischen Wendung aus seiner zentralen Stellung heraus
und macht ihn zu einem Beobachter kosmischen Geschehens - das ihn einschließt.
Als Beobachter ist er freilich keineswegs neutral, sondern voller "konstruktiver
Vorurteile", d. h. angeborener Erkenntnisstrukturen. Indem die
Wissenschaft eine Objektivierung der Erkenntnis anstrebt, leistet sie
also zugleich eine Entanthropomorphisierung.
Die evolutionäre Erkenntnistheorie ist selbst ein Schritt auf diesem
Wege.
Zusammenfassung von Gerhard Vollmer aus "Evolutionäre Erkenntnistheorie"
(S. Hirzel, Stuttgart, 1981)
(mit Erlaubnis des Autors)
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