Das frühe Mittelalter
Das Christentum entwickelte sich in der Zeit des Niedergangs des Römischen
Reiches immer mehr zur vorherrschenden Religion. Als das Reich (oder eher
seine westlichen Gebiete) vollends unter dem Ansturm germanischer Stämme
begraben wurde, ließen sich auch diese zum Christentum bekehren.
Diese neue Religion zerstörte nicht die griechische Naturwissenschaft,
denn diese hatte schon in den letzten Zügen gelegen, als die Christenheit
noch eine unbekannte Sekte war. Tatsächlich hatte naturwissenschaftliches
Denken schon weit vor Christi Geburt Anzeichen ernster Erkrankung gezeigt.
Dennoch arbeitete die Vorherrschaft des Christentums viele Jahrhunderte
hindurch gegen eine Wiederbelebung der Naturwissenschaft. Der christliche
Standpunkt war dem der ionischen Philosophen vollständig entgegengesetzt.
Nach christlicher Auffassung war nicht die Welt der Sinne von Bedeutung,
sondern das "Reich Gottes", welches man nur durch Offenbarung erreichen
konnte. Die Bibel, die Schriften der Kirchenväter und die Inspirationen
der Kirche selbst waren die einzigen sicheren Wegweiser dorthin.
Der Glaube an das Bestehen eines unveränderlichen, beständigen
Naturgesetzes wich der Vorstellung, dass die Welt fortwährend das
wunderbare Eingreifen Gottes im Namen seiner Heiligen erführe. Das
Studium weltlicher Dinge galt für manche wirklich als ein Werk des
Satans, welches nur dazu angetan war, die Christen von der richtigen Hinwendung
zu geistlichen Dingen abzulenken. Von diesem Standpunkt aus wurde die
Naturwissenschaft zu einer Angelegenheit des Teufels.
Sicherlich teilten nicht alle diese Meinung, und das Licht der Naturwissenschaft
behauptete sich als schwache Glut inmitten der Schatten des sogenannten
"finsteren Mittelalters". Der Engländer Beda (673 - 735),
kein Gelehrter von Beruf, kämpfte um das Überleben weltlicher
Wissenschaft und bewahrte von dem Wissen des Altertums soviel er konnte.
Da dieses Sammeln sich jedoch hauptsächlich auf die Reste der Überlieferungen
von Plinius bezog, standen seine Aufzeichnungen auf keinem sehr hohen
Niveau.
Vielleicht wären alle Erkenntnisse des Altertums in Vergessenheit
geraten, wenn die Araber nicht gewesen wären. Die Araber übernahmen
die von Mohammed im siebten Jahrhundert gepredigte Religion des Islam,
die sogar noch jünger als das Christentum war. Sie brachen plötzlich
aus ihrer unfruchtbaren Halbinsel aus und überfluteten Südwestasien
und Nordafrika. Im Jahre 730, ein Jahrhundert nach Mohammed, standen die
Moslems vor den Toren Konstantinopels im Osten und am Rande Frankreichs
im Westen.
Militärisch und auch kulturell schienen sie eine furchtbare Geißel
und Gefahr für das christliche Europa zu sein. Doch im intellektuellen
Bereich erwiesen sie sich letzten Endes als ein Segen. Sie waren genauso
wenig wie die Römer große wissenschaftliche Neuerer, sie entdeckten
aber die Arbeiten solcher Männer wie Aristoteles und Galen wieder,
die sie ins Arabische übersetzten. Die Werke dieser Männer wurden
von ihnen bewahrt, studiert und kommentiert. Der bedeutendste unter den
moslemischen Biologen war der persische Arzt Abu - Ali al - Husayn
Ibn - Sina, der allgemein unter dem Namen Avicenna (980 - 1037)bekannt
ist. Das ist die lateinische Version des letzten Teils seines Namens.
Avicenna schrieb zahlreiche Bücher denen die medizinischen Theorien
des Hippokrates und das gesammelte Material der Celsus-Bücher zugrunde
lagen.
Aber etwa zu dieser Zeit hatte sich, wenigstens in Westeuropa, das Blatt
gewendet. Christliche Armeen hatten das mehrere Jahrhunderte hindurch
von Moslems beherrschte Sizilien und auch Spanien zurückerobert.
Gegen Ende des elften Jahrhunderts nahmen die sogenannten Kreuzzüge
ihren Anfang: westeuropäische Armeen begannen in den nahen Osten
einzudringen.
Durch die Berührung mit dem Kulturkreis des Feindes wurde den Europäern
bewusst, dass diese Kultur keineswegs ein Werk des Satans, dass sie vielmehr
in mancher Hinsicht fortschrittlicher und höher entwickelt war als
ihr eigener Lebensstil. Europäische Gelehrte begannen die moslemische
Wissenschaft zu durchmustern, und Übersetzungen wissenschaftlicher
Bücher aus dem Arabischen in die europäischen Sprachen standen
hoch im Kurs. Der italienische Gelehrte Gerard von Cremona (1114 -
87) übersetzte die Werke von Hippokrates, Galen und einige Arbeiten
von Aristoteles ins Lateinische. Er arbeitete im gerade zurückeroberten
Spanien an seinen Übersetzungen, wo er der Hilfe moslemischer Gelehrter
sicher sein konnte.
Einer der Anhänger des wiederentdeckten Aristoteles war der deutsche
Gelehrte Albertus Magnus, (1206-80). Seine Vorlesungen und Schriften
waren fast ausschließlich aristotelisch. Er half, die griechische
Wissenschaft aufs neue zu begründen, so dass auf diesem Fundament
weiter aufgebaut werden konnte.
Thomas von Aquin (ca. 1225 - 74), ein italienischer Schüler
des Albertus Magnus, versuchte die aristotelische Philosophie mit dem
christlichen Glauben in Einklang zu bringen und hatte damit im großen
und ganzen auch Erfolg. Er war der Auffassung, dass der denkende Verstand
genauso wie der Rest des Universums eine Schöpfung Gottes sei, und
dass man durch richtiges Denken niemals zu Erkenntnissen gelangen könne,
die dem christlichen Glauben widersprächen. Der Verstand war daher
nichts Schlechtes oder Schädliches. Insofern war Thomas von Aquin
ein Rationalist.
Alle Voraussetzungen für eine Erneuerung des Rationalismus waren
damit gegeben.
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