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Im späten Mittelalter begann man in Italien wieder menschliche Leichen
zu sezieren. Diese Tätigkeit stand immer noch in Misskredit. In Bologna
gab es aber eine Schule für Rechtswissenschaft, in der man der Auffassung
war, dass häufig Rechtsfragen bezüglich einer Todesursache am
besten durch eine Obduktion der Leichen zu klären seien.
Nachdem man die Sektion menschlicher Körper allgemein für gerechtfertigt
befunden hatte, war es nur noch ein kleiner Schritt, diese auch für
die medizinische Lehre zu nutzen. Sowohl Bologna als auch Salerno waren
in der damaligen Zeit für ihre medizinischen Schulen weithin bekannt.
Die wieder üblich gewordene Sektion brachte nicht gleich neue biologische
Erkenntnisse mit sich. Zunächst wollte man nur die Arbeiten von Galen
und Avicenna veranschaulichen. Die Lehrer, selbst Gelehrte, hatten sich
zwar den Inhalt der Bücher zu eigen gemacht, betrachteten aber die
wirkliche Sektion als herabwürdigendes Geschäft, das sie einem
Gehilfen überließen.
Die Lehrer hielten Vorlesungen, kümmerten sich aber kaum darum,
ob ihre Aussagen mit den Tatsachen übereinstimmten. Die Gehilfen,
wissenschaftlich wenig gebildet, bemühten sich darum, ihre Auftraggeber
nicht bloßzustellen. Die unglaublichsten Irrtümer wurden so
laufend wiederholt. Merkmale, die Galen bei Tieren gefunden hatte, und
die er daher auch beim Menschen vermutete, wurden auch beim Menschen immer
wieder "gefunden", obgleich sie da gar nicht existierten.
Der italienische Anatom Mondino de' Luzzi (1275 - 1326) war in
dieser traurigen Lage eine Ausnahme. Er sezierte selbst an der medizinischen
Schule von Bologna und schrieb 1316 das erste ausschließlich der
Anatomie gewidmete Buch. Er ist daher als der "Erneuerer der Anatomie"
bekannt. Diesen Namen trägt er aber zu Unrecht. Mondino hatte
nicht den Mut, vollständig mit den Irrtümern der Vergangenheit
zu brechen, denn bei einigen seiner Beschreibungen ist deutlich zu erkennen,
dass er den Text der alten Bücher seinen eigenen Beobachtungen vorzog.
Außerdem bürgerte sich nach seinem Ableben die alte Gewohnheit
wieder ein, die Sektionen von einem Gehilfen ausführen zu lassen.
Im Laufe der Renaissance bildete sich zusehends ein neuer Naturalismus
in der Kunst heraus. Die Maler lernten die Gesetze der Perspektive auf
ihre Gemälde anzuwenden, so dass ihre Bilder dreidimensional erschienen.
Darüber hinaus strebte man in der Kunst nach möglichst naturgetreuer
Gestaltung. Um den menschlichen Körper wirklichkeitsgetreu erscheinen
zu lassen, musste man (wenn man ganz gewissenhaft sein wollte) nicht nur
die Umrisse der äußeren Hülle des Körpers, sondern
auch die Beschaffenheit der Muskeln unter der Haut, die Sehnen und Bänder
und sogar die Anordnung der Knochen kennen. Die Künstler wurden deshalb
notwendig zu Amateur-Anatomen.
Vielleicht ist der Italiener Leonardo da Vinci (1452 -1519)
der berühmteste Künstler-Anatom, der sowohl Menschen als auch
Tiere sezierte. Er war insofern gegenüber den gewöhnlichen Anatomen
im Vorteil, als er das, was er sah, durch Zeichnungen hervorragender Qualität
illustrieren konnte. Er untersuchte und zeichnete die Art und Weise
wie Knochen und Gelenke angeordnet waren. Dadurch gelang es ihm als erstem,
genau anzugeben, wie ähnlich die Knochen eines menschlichen Beines
denen eines Pferdebeines trotz äußerlicher Unterschiede waren.
Dies war ein Beispiel für die "Homologie", welche äußerlich
verschiedene Tiere in testgefügte Gruppen einteilte. So wurde ein
weiterer Grundstein für die Evolutionstheorie gelegt.
Leonardo untersuchte und zeichnete die Wirkungsweise des Auges und des
Herzens. Er malte auch pflanzliches Leben. Aus Interesse an der Möglichkeit
der Konstruktion einer Flugmaschine beobachtete er Vögel mit großer
Aufmerksamkeit und zeichnete sie im Fluge. All das verwahrte er jedoch
in geheimgehaltenen Aufzeichnungen, so dass seine Zeitgenossen davon
nichts erfuhren. Erst in der Neuzeit hat man diese Arbeiten entdeckt.
Aus diesem Grund hat er das wissenschaftliche Denken seiner Zeit nicht
beeinflussen können.
So wie die Anatomie erhielt auch die Naturgeschichte langsam neue Impulse.
Das fünfzehnte Jahrhundert erlebte in Europa den Beginn eines Zeitalters
der Entdeckungen. Europäische Schiffe fuhren die afrikanischen Küsten
entlang, erreichten Indien und die weiter östlich gelegenen Inseln.
Amerika wurde entdeckt. Wie schon einmal nach den Eroberungen der Mazedonier
und Römer erregten neue und bis dahin unbekannte Pflanzen und Tierarten
die Wissbegierde der Gelehrten.
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Der italienische Botaniker Prospero Alpini (1553 - 1617) war der Leibarzt
des venezianischen Konsuls in Kairo. Dort hatte er Gelegenheit, die Dattelpalme
zu studieren, und er stellte fest, dass es männliche und weibliche
Bäume gab. Teophrastus hatte das schon zweitausend Jahre vorher
bemerkt. Aber diese Tatsache war in Vergessenheit geraten und die Ungeschlechtlichkeit
der Pflanzen allgemein akzeptiert worden. Alpini war auch der erste Europäer,
der die Kaffeepflanze beschrieb. Die Naturgeschichte der Renaissance erreichte
ihren literarischen Höhepunkt durch den Schweizer Naturforscher
Konrad von Gesner (1516 - 65). Was seine weitreichenden Interessen, seine
allgemeine Wissbegierde, seine Neigung zur Leichtgläubigkeit und
seine Überzeugung angeht, dass eine bloße Anhäufung von
Auszügen aus den alten Büchern ein Wegweiser zur allgemeinen
Erkenntnis sei, war er Plinius sehr ähnlich. Man nennt ihn daher
auch gelegentlich den "deutschen Plinius".
In den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts erwachte Europa
aus seinem wissenschaftlichen Tiefschlaf und drang bis an die Front der
griechischen Wissenschaft vor. Man erzielte jedoch keine weiteren Fortschritte,
solange die europäischen Gelehrten nicht erkannten, dass die griechischen
Bücher nur ein Anfang waren. Die wissenschaftliche Welt musste sich
zwar zunächst ihres Inhalts bemächtigen, sich dann aber von
ihm lösen, anstatt ihn ängstlich zu behüten oder gar zu
verherrlichen. Wie schwierig es war, aus der Gedankenwelt der Griechen
auszubrechen und die Grenzen zu überschreiten, zeigen die Arbeiten
Mondinos.
Vielleicht musste man ein halbverrückter Prahlhans sein, um den
Durchbruch vollziehen und als lebendes Bindeglied zur modernen Zeit dienen
zu können. Ein Schweizer Arzt mit Namen Theophrastus Bombastus
von Hohenheim 1493 - 1541) vollbrachte dies. Sein Vater unterwies
ihn in der Medizin, er kam viel in der Welt herum und hatte einen aufnahmefreudigen
Geist. Auf seinen Reisen griff er viel Neues auf, das seinen zu Hause
gebliebenen Zeitgenossen unbekannt war. So machte er aus sich selbst
einen gelehrten Arzt.
Die Alchimie, welche die Europäer auf dem Umwege über
die Araber von den alexandrinischen Griechen gelernt hatten, fand sein
Interesse. Man kann den gewöhnlichen Alchimisten - sofern er
kein ausgemachter Betrüger war - mit dem heutigen Chemiker vergleichen.
Die beiden spektakulären Ziele der Alchimie stellten sich aber als
Irrlichter heraus, denen man nie näher kommen konnte, jedenfalls
nicht mit alchimistischen Methoden.
Die Alchimisten versuchten zunächst Methoden zur Umwandlung der
Grundmetalle, z.B. Blei in Gold zu finden. Dann suchten sie das, was
gemeinhin "Stein der Weisen" genannt wurde - ein trockenes Material,
von dem einige annahmen, es könne ein Medium zur Verwandlung unedler
Metalle in Gold sein, während andere es als universales Heilmittel
betrachteten, ein Lebenselexier, das sogar den Schlüssel zur Unsterblichkeit
bedeutete.
Die Bemühungen Gold herzustellen, wurden von Hohenheim für
unsinnig gehalten. Er war vielmehr der Auffassung, dass das wahre Ziel
der Alchimie in der Hilfe für den Arzt lag, Krankheiten zu heilen.
Aus diesem Grunde konzentrierte er sich auf den Stein der Weisen, den
er vorgab, entdeckt zu haben. (Er zögerte nicht mit der Behauptung,
dass er ewig leben würde. Bedauerlicherweise starb er an den Folgen
eines Unfalls noch vor Vollendung seines fünfzigsten Lebensjahres.)
Hohenheims alchimistische Untersuchungen führten ihn dazu, für
therapeutische Zwecke Heilmitteln mineralischen Ursprungs besondere Beachtung
zu schenken. Er zog wütend über die alten Griechen her. Die
Arbeiten von Celsus waren gerade übersetzt worden und galten als
die Bibel der europäischen Ärzte. Hohenheim nannte sich selbst
"Paracelsus (besser als Celsus), und er ist der Nachwelt nur unter diesem
prahlerischen Namen bekannt.
Paracelsus war 1527 Stadtarzt in Basel. Um seinen Ansichten soviel
Publizität wie nur irgend möglich zu geben, verbrannte er Exemplare
der Bücher von Galen und Avicenna auf dem Rathausplatz. Als
Folge davon manövrierten ihn seine konservativen Gegner unter den
Ärzten aus Basel hinaus. Aber das änderte seine Meinung nicht.
Paracelsus zerstörte weder die griechische Naturwissenschaft noch
die Biologie, doch hatten seine Angriffe Beachtung bei den Gelehrten gefunden.
Seine eigenen Theorien waren nicht sehr viel besser als die der Griechen,
gegen die er so wütend schimpfte. Aber es war eine Zeit, in der
eine solche Bilderstürmerei notwendig und um ihrer selbst willen
wertvoll war. Seine laute Verachtung der Alten brachte die Säulen
orthodoxen Denkens ins Wanken, und obgleich die griechische Naturwissenschaft
noch eine Zeitlang ihren Würgegriff um den europäischen Geist
hielt, wurde dieser Griff zusehends schwächer.
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