Die neue Anatomie
Das Jahr 1543 betrachtet man gewöhnlich als den Markstein der "kopernikanischen
Wende". In diesem Jahr veröffentlichte der polnische Astronom Kopernikus
ein Buch, in welchem er eine neue Auffassung über das Sonnensystem
darlegte. Nach seiner Hypothese bewegten sich die Erde um die anderen
Planeten um die im Zentrum stehende Sonne. Das war der Anfang vom Ende
der alten griechischen Theorie des Weltalls (nach der sich die Erde im
Zentrum befand). Doch es sollte noch ein sich über ein Jahrhundert
hinstreckender harter Kampf werden, bevor der Sieg der neuen Anschauung
endgültig war.
Im gleichen Jahr, 1543, erschien ein zweites Buch, das sich für
die Biologie als genauso revolutionär wie das Kopernikanische für
die Physik herausstellte. Dieses zweite Buch mit dem Titel "De Corporis
Humani Fabrica" (Über den Aufbau des menschlichen Körpers) stammte
von dem belgischen Anatomen Andreas Vesalius (1514 - 64).
Vesalius wurde in den Niederlanden in der strengen Tradition von Galen
erzogen, vor dem er immer die größte Hochachtung bewahrt hat.
Nach Beendigung seines Studiums bereiste er Italien, wo er eine geistig
liberalere Atmosphäre antraf. Er führte den alten Brauch von
Mondino de Luzzi wieder ein, die Sektionen selbst durchzuführen.
Dabei ließ er sich nicht durch alte griechische Ansichten beeinflussen,
wenn seine Augen andere Tatsachen feststellten.
Das aufgrund seiner Beobachtungen publizierte Buch war das erste wirklich
genaue Buch über die menschliche Anatomie, welches der Öffentlichkeit
vorgelegt wurde. Es hatte gegenüber früheren Büchern große
Vorzüge. Zunächst erschien es in einer Zeit, in der die Buchdruckerkunst
schon erfunden war, so dass Tausende von Exemplaren in ganz Europa verbreitet
werden konnten. Zweitens enthielt es Zeichnungen. Viele der hervorragenden
Illustrationen waren von Jan Stevenzoon van Calcar, einem Schüler
des Künstlers Tizian, angefertigt worden. Der menschliche Körper
war in natürlichen Haltungen zu sehen, und die Zeichnungen der Muskeln
waren besonders gut gelungen.
Das Erscheinen des Buches hatte aber eine unglückliche Auswirkung
auf Vesalius' persönliches Schicksal. Seine Ansichten erschienen
gewissen Kreisen ketzerisch, und sicher waren seine öffentlich vorgenommenen
Sektionen, die er auch in seinem Buche rückhaltlos befürwortete,
gesetzwidrig. Er wurde zu einer Pilgerfahrt in das Heilige Land gezwungen
und kam auf der Rückreise bei einem Schiffbruch ums Leben.
Die durch Vesalius herbeigeführte Revolution in der Biologie
war jedoch schneller wirksam als die von Kopernikus in der Astronomie.
Vesalius behauptete in seinem Buch nicht so anscheinend unglaubliche Dinge
wie die Bewegung der ungeheuer großen Erde durch den Raum. Ganz
im Gegenteil stellte er in recht ansprechender Weise die Gestalt und die
Anordnung der Organe dar, so dass jeder, wenn er nur wollte, das selbst
nachprüfen konnte.
Die griechische Anatomie war veraltet, und eine neue italienische Anatomie
gelangte zur Blüte. Ein Schüler von Vesalius, Gabriello Fallopio
oder Gabriel Fallopius (1523-62) setzte die neue Lehre fort. Er untersuchte
das Fortpflanzungssystem und beschrieb die Eileiter, welche den Eierstock
mit der Gebärmutter verbinden. Man nennt sie heute noch die Fallopianischen
Röhren.
Ein anderer italienischer Anatom, Bartolommeo Eustachio oder Eustachius
(etwa 1500 - 74), der zwar ein Anhänger Galens und Gegner von Vesalius
war, beschrieb dennoch genau, was er sah. Die Alkmäonsche Röhre,
die das Ohr mit dem Rachenraum verbindet, wurde von ihm wiederentdeckt.
Sie ist heute als Ohrtrompete oder "Eustachische Röhre" bekannt.
Die erfrischend neue Denkweise der Anatomie übertrug sich auch auf
andere Gebiete der Biologie. Die Hippokratische Überzeugung, dass
ärztliche Eingriffe vorsichtig vorzunehmen seien, war von der Anwendung
derberer Heilmethoden verdrängt worden. Diese handhabte man tatsächlich
so roh, dass zu Beginn der Neuzeit die Chirurgie nicht den Ärzten,
sondern den Barbieren überlassen wurde, die sowohl menschliches Fleisch
wie auch Haare schnitten. Da sie nur über geringe theoretische Kenntnisse
verfügten, verließen sie sich wahrscheinlich um so mehr auf
drastische Methoden. Geschosswunden wurden mit kochendem Öl desinfiziert
und Blutungen durch das Schwarzbrennen der Gefäße mit einem
rotglühenden Eisen gestillt.
Der französische Chirurg Ambroise Paré (1517 - 90) trug
hier zu einer Änderung bei. Er begann als Barbierlehrling, trat
in die Armee als Barbierchirurg ein, wo ihm aufsehenerregende Neuerungen
gelangen. Für Geschosswunden verwandte er milde Salben (bei Zimmertemperatur)
und stillte das Blut durch Abschnüren der Arterien. Er erzielte weit
häufiger Heilungen, wobei nur ein kleiner Bruchteil der früheren
Schmerzen in Kauf genommen werden musste. Aus diesem Grund wird er auch
oft "Vater der modernen Chirurgie" genannt.
Paré erfand auch gut konstruierte künstliche Gliedmaßen,
verbesserte die Methoden der Geburtshilfe und schrieb zusammenfassende
Darstellungen der Werke von Vesalius in französischer Sprache. Die
des Lateinischen nicht mächtigen Barbierchirurgen konnten dadurch
etwas über die Struktur des menschlichen Körpers lernen, so
dass sie nicht mehr aufs Geratewohl loszuschneiden brauchten.
Genauso wie die Anatomen von ihrem Thron heruntersteigen und eigenhändig
sezieren mussten, dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Ärzte
ihren akademischen Dünkel überwanden und ihre Operationen selbst
durchführten.
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