|
Die Geburt der Physiologie am Beispiel des Blutkreislaufs
Es war erheblich schwerer die Arbeitsweise der menschlichen Körperteile,
als deren Aussehen und Anordnung zu erforschen. Ersteres fällt in
das Gebiet der Physiologie, das zweite in das der Anatomie. In der Physiologie
hatten die Griechen wenige Fortschritte erzielt, und ihre meisten Schlussfolgerungen
waren falsch, besonders die über das Herz. Offensichtlich ist das
Herz eine Pumpe, denn es verspritzt Blut. Aber woher kommt und wohin geht
das Blut? Die frühen griechischen Ärzte begingen ihren ersten
Fehler damit, die Venen als die einzigen Blutgefäße zu betrachten.
Da die Arterien in toten Körpern gewöhnlich leer sind, betrachtete
man sie als Luftgefäße. (Das Wort "Arterie" ist aus griechischen
Wörtern gebildet und heißt "Luftschacht".)
Herophilus hatte jedoch gerade gezeigt, dass sowohl Arterien wie
Venen Blut transportieren. Beide Arten von Blutgefäßen sind
mit dem Herzen verbunden, und das Problem hätte sich von selbst gelöst,
wenn irgendeine vom Herzen getrennte Verbindung zwischen den Enden der
Venen und Arterien gefunden worden wäre. Die sorgfältigsten
anatomischen Untersuchungen ergaben aber, dass sich sowohl Venen wie Arterien
in immer feinere Gefäße verzweigten, die schließlich
so fein wurden, dass sie mit dem Auge. nicht mehr wahrnehmbar waren. Eine
Verbindung zwischen ihnen konnte nicht gefunden werden.
Galen nahm daher an, dass sich das Blut zwischen der einen und der anderen
Gruppe der Blutgefäße hin und her bewege, wobei es das Herz
von rechts nach links durchströme. Um den Durchfluss des Blutes durch
das Herz zu erklären behauptete er, dass es winzige Öffnungen
in der dicken muskulösen Trennwand geben müsse, die das Herz
in eine rechte und linke Hälfte teilen. Diese Öffnungen wurden
niemals entdeckt. Doch Ärzte und Anatomen glaubten noch siebzehn
Jahrhunderte nach Galens Tod an ihre Existenz (weil es eben Galen so behauptet
hatte).
Die italienischen Anatomen der Neuzeit schöpften Verdacht, dass
dies nicht stimme, ohne jedoch die offene Rebellion ganz zu wagen.
Zum Beispiel entdeckte Hieronymus Fabrizzi oder Fabricius (1537
- 1619), dass die größeren Venen Ventilklappen besaßen.
Er beschrieb diese genau und zeigte ihre Arbeitsweise. Sie waren so
angeordnet, dass Blut ohne Schwierigkeiten zum Herzen hindurchfließen
konnte, ein Zurückströmen war aber nicht möglich, weil
das Blut durch die Venenklappen festgehalten wurde.
Daraus hätte man eigentlich den Schluss ziehen müssen, dass
das Blut in den Venen nur in einer Richtung, nämlich zum Herzen hin,
fließen konnte. Das widersprach aber Galens Vorstellung von einer
Hin- und Herbewegung und Fabricius wagte daher nur anzunehmen, dass der
Blutrückfluss durch die Ventilklappen lediglich verlangsamt (anstatt
ganz unterbunden) wurde.
Aber ein Schüler des Fabricius, ein Engländer mit Namen William
Harvey (1576-1657) war aus härterem Holz geschnitzt. Nach England
zurückgekehrt, untersuchte er das Herz und bemerkte ebenfalls, wie
schon einige Anatomen vor ihm, die sich nur in einer Richtung öffnenden
Ventile. Das Blut konnte von den Venen aus in das Herz eindringen, aber
die Ventile verhinderten den Rückfluss in die Venen. Wiederum konnte
das Blut zwar das Herz durch die Arterien verlassen, aber wegen anderer
Durchflussventile nicht mehr zum Herzen zurückfließen. Als
Harvey eine Arterie abband, wölbte sich die dem Herzen zugewandte
Seite wegen einer dort entstehenden Blutfülle. Band er aber eine
Vene ab, so dehnte sich aus dem gleichen Grund die dem Herzen abgewandte
Seite aus. Alle diese Beobachtungen zusammen ergaben, dass das Blut nicht
hin und her floss, sondern sich immer nur in einer Richtung bewegte. Das
Blut floss von den Venen in das Herz, von dort in die Arterien. Eine Umkehrung
dieser Flussrichtung erfolgte nie.
Harvey berechnete weiterhin die Pumpleistung des Herzens und stellte
fest, dass diese in einer Stunde eine Blutmenge beförderte, die das
dreifache Gewicht eines Menschen ausmachte. Es schien unvorstellbar, dass
sich Blut mit einer solchen Geschwindigkeit: neu bilden und wieder zerfallen
konnte. Aus diesem Grunde musste das Blut der Arterien irgendwo außerhalb
des Herzens durch Blutgefäße in die Venen zurückfließen,
die wegen ihrer Feinheit vom Auge nicht wahrgenommen werden konnten. (Solche
unsichtbaren Blutgefäße waren keine schlechtere Hypothese als
Galens unsichtbare, den Herzmuskel durchziehende Poren.) Hatte man einmal
die Existenz solcher verbindender Blutgefäße angenommen, war
die Einsicht nicht mehr schwer, dass das Herz immer wieder dasselbe Blut
durch den Körper pumpte:
Venen - Herz - Arterien - Venen - Herz - Arterien usw. Weshalb es dann
auch keineswegs erstaunlich war, dass in einer Stunde eine Blutmenge gepumpt
werden sollte, die dem dreifachen Gewicht eines Menschen entsprach.
Im Jahre 1628 veröffentlichte Harvey seine Überlegungen nebst
den zugehörigen Beweisen in einem kleinen Buch von nur zweiundsiebzig
Seiten. Es wurde in Holland unter dem Titel "De Motu Cordis et Sanguinis"
("Über die Bewegung des Herzens und des Blutes") gedruckt. Trotz
seines geringen Umfangs und seiner miserablen Aufmachung war es ein revolutionäres
Buch, das für die damalige Zeit wie geschaffen war.
|
|
Das war die Situation in jener Zeit, als der italienische Naturwissenschaftler
Galileo Galilei (1564 - 1642) die experimentelle Methode in den Naturwissenschaften
populär machte und dadurch das physikalische System des Aristoteles
zerstörte.
Die Arbeiten von Harvey stellten
die erste wesentliche Anwendung der neuen experimentellen Methode auf
die Biologie dar. Er widerlegte Galens physiologisches System und begründete
die moderne Physiologie. (Harveys Berechnung der Pumpleistung des Herzens
ist die erste bedeutende Anwendung der Mathematik auf die Biologie.)
Die noch in den alten Anschauungen groß gewordenen Ärzte feindeten
Harvey stark an, aber gegen die Tatsachen waren sie machtlos. Harvey ist
ein alter Mann geworden, doch die verbindenden Blutgefäße zwischen
Venen und Arterien blieben unentdeckt; trotzdem erkannten die Biologen
die Theorie des Blutkreislaufs allgemein an. Europa hatte somit wirklich
und endgültig die Grenzen der alten griechischen Biologie überschritten.
Harveys neue Theorie eröffnete den Kampf zwischen zwei gegensätzlichen
Auffassungen des Lebens einen Kamf, der sich durch die Geschichte der
modernen Biologie hindurchzieht.
Nach der einen Auffassung werden lebende Dinge als wesentlich verschieden
von der unbelebten Natur betrachtet, so dass man nicht erwarten kann,
Aufschlüsse über die Natur des Lebens durch das Studium des
Unbelebten zu gewinnen. Kurz gesagt gibt es demnach zwei verschiedene
Arten von Naturgesetzen: Solche, die für alle lebenden und solche,
die für unbelebte Dinge gelten. Dies ist der Standpunkt der VITALISTEN.
Andererseits kann man Lebewesen als spezialisierte Organismen betrachten,
die sich jedoch nicht grundsätzlich von den weniger komplizierten
System der unbelebten Natur unterscheiden. Bei genügendem Aufwand
an Zeit und Mühe wird das Studium des unbelebten Universums ausreichende
Kenntnisse vermitteln, die zu einem Verständnis des lebenden Organismus
führen, welcher nach dieser Auffassung nichts als eine unglaublich
komplizierte Maschine ist. Das ist die Ansicht der MECHANISTEN.
Durch Harveys Entdeckung war natürlich eine Lanze für die Mechanisten
gebrochen worden. Das Herz konnte als Pumpe betrachtet werden, und der
Blutstrom verhielt sich genauso, wie man das von irgendeiner beliebigen
Flüssigkeit erwarten würde. Wenn dem so ist, wo liegt dann die
Grenze? Könnte nicht der Rest des lebenden Organismus bloß
eine Menge komplizierter und ineinandergreifender mechanischer Systeme
sein?
Der Franzose Rene Descartes (1596 - 1650), der bedeutendste Philosoph
seiner Zeit, war von der Vorstellung des Körpers als Mechanismus
angetan.
Eine solche Auffassung richtete sich, wenigstens im Falle des Menschen,
in gefährlicher Weise gegen die damaligen anerkannten Glaubensinhalte,
und Descartes war vorsichtig genug darzulegen, dass Geist und Seele nicht
mit in die menschliche Körpermaschine einbezogen seien, dass sich
diese vielmehr nur auf die tierähnliche physikalische Struktur beziehe.
In bezug auf Geist und Seele gab er sich mit dem vitalistischen Standpunkt
zufrieden.
Descartes äußerte den Gedanken, dass der Zusammenhang zwischen
Körper und Geist - Seele durch ein Stück Gewebe, der Zirbeldrüse,
hergestellt werde, welche ein Anhängsel des Gehirns ist. Zu dieser
Ansicht wurde er durch den trügerischen Glauben verführt, dass
nur der Mensch eine Zirbeldrüse besäße. Das erwies sich
sehr schnell als falsch. Tatsächlich ist die Zirbeldrüse in
gewissen Reptilien besser entwickelt als beim Menschen.
Die Theorien Descartes, in Einzelheiten vielleicht nicht zutreffend waren
dessen ungeachtet sehr einflussreich. Es gab Physiologen, die dem mechanistischen
Standpunkt in allen Einzelheiten mit Gewalt zum Durchbruch verhelfen wollten.
So analysierte der italienische Physiologe Giovanni Alfonso Borelli (1608
- 79) in einem ein Jahr nach seinem Tode erschienenen Buch die Bewegungen
der Muskeln, indem er die Muskel - Knochen - Kombinationen als Hebelsysteme
behandelte. Dieser Gedanke erwies sich als brauchbar, denn die allgemeine
Hebelgesetze sind auch auf Hebel anwendbar, die aus Knochen und Muskeln
bestehen. Borelli versuchte ähnliche mechanische Prinzipien auf andere
Organe, z. B. auf die Lungen und den Magen zu übertragen, war aber
da weniger erfolgreich.
|