|
Lamarck - 18. Jh.
Linnés Klassifikation, die mit sehr großen Gruppen beginnt
und diese dann schrittweise in immer kleinere Gruppen unterteilt, erschien
buchstäblich wie ein "Lebensbaum". Beim Anblick der Darstellung eines
solchen Baumes, wie schematisch diese auch immer sein mochte, war die
Frage fast unvermeidlich, ob eine derartige Anordnung ganz und gar zufällig
sein konnte. Hätte es, nicht sein können, dass sich zwei benachbarte
Arten aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt und dass sich zwei benachbarte
Vorfahren aus einem noch älteren und primitiveren Vorfahren entwickelt
haben? Kurz gesagt: Hätte die von Linné entwickelte Struktur
nicht in irgendeiner Weise über größere Zeiträume
wie ein wirklicher Baum gewachsen sein können? Es war gerade diese
Möglichkeit, die zur größten Kontroverse in der Geschichte
der Biologie führen sollte.
Für Linné, der fromm und dem Bibelwort treu ergeben war,
schied diese Möglichkeit von vornherein aus. Er vertrat die Ansicht, dass jede Art durch einen eigenen Schöpfungsakt entstanden
sei und durch die göttliche Vorsehung erhalten geblieben sei, so
dass keine Art zum Aussterben verurteilt gewesen sein könne. Dieser
Glaube war an seinem eigenen Klassifikationssystem zu erkennen, denn es
war auf äußere Erscheinungen gegründet und versuchte nicht,
mögliche Zusammenhänge wiederzugeben. (Es war so, als ob man
Kaninchen und Fledermäuse nur deshalb zu einer Kategorie zählen
würde, weil sie alle lange Ohren haben.)
Wenn es keine Beziehungen zwischen den Arten gäbe, wäre die
Art und Weise ihrer Gruppierung sicher gleichgültig. Alle Anordnungen
wären gleichermaßen künstlich, und man hätte dann
sehr gut die bequemste wählen können.
Dessen ungeachtet konnte Linné andere nicht von der Vermutung
oder Annahme eines gewissen Evolutionsprozesses abhalten (das Wort
"Evolution" wurde erst gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts populär),
in dem eine Art sich aus einer anderen entwickelte und in dem natürliche
Beziehungen zwischen den Arten vorhanden waren, die ihren Niederschlag
eigentlich auch im benutzten Klassifikationssystem finden sollten. (Mit
zunehmendem Alter wurde auch Linné schwankend und schloss die
Möglichkeit der Entstehung neuer Arten durch Kreuzung verschiedener
Arten nicht aus.)
Sogar der nachgiebige, konservative und vorsichtige französische
Naturforscher Georges Louis Leclerc Comte de Buffon (1707-88) - er
hatte mit Needham an dessen Experimenten über spontane Zeugung zusammengearbeitet - konnte nicht anders, als die vorherrschende Meinung durch eine solche
Annahme in Frage zu stellen.
De Buffon schrieb eine Enzyklopädie über Naturgeschichte, die
in seiner Zeit mindestens so populär war wie die von Plinius und
auch genauso vielseitig (aber weitaus genauer). Darin führte er aus,
dass einige Lebewesen Körperteile ohne bestimmte Funktion besäßen,
wie z. B. die zwei zusammengeschrumpften Zehen, welche ein Schwein an
den Seiten seiner Klauen besitzt. Könnte es denn nicht sein, dass
diese Zehen einst ihre volle Größe besessen haben, gebraucht
worden und erst im Laufe der Zeit verkümmert sind? Könnte nicht
ganzen Organismen das gleiche beschieden gewesen sein? Könnte nicht
ein Affe ein entarteter Mensch oder ein Esel ein entartetes Pferd sein?
Der englische Arzt Erasmus Darwin (1731-1802) schrieb lange Gedichte,
die von Botanik und Zoologie handelten, in welchen er das Linnésche
System anerkannte. In ihnen behandelte er auch die Möglichkeit, dass
Umwelteinflüsse eine Art verändern können. (Diese Ansichten
wären sicher heute längst vergessen, wenn nicht Erasmus Darwin
der Großvater von Charles Darwin gewesen wäre, mit dem die
Abstammungslehre ihren Höhepunkt erreicht hat.)
Ein Jahr nach De Buffons Tod wurde Europa durch die Französische
Revolution bis in den Grund erschüttert. Eine Zeit der Veränderung
folgte, in der alte Werte zerschlagen wurden, die nie wieder Gültigkeit
erlangten. Die bequeme Anerkennung des Königs und der Kirche als
letzte Autoritäten erlosch nach und nach bei den Völkern, und
man konnte wissenschaftliche Theorien äußern, die früher
gefährliche Ketzereien gewesen wären. Somit erschien es überflüssig,
sich mit De Buffons Ideen über das Leben im Lichte der Abstammungslehre
ernsthaft auseinander zusetzen. Erst einige Jahrzehnte später erachtete
der französische Naturforscher Jean Baptiste de Monet Chevalier
de Lamarck (1744 - 1829) es als wünschenswert, die Abstammungslehre
ausführlich zu behandeln.
Lamarck brachte die ersten vier Klassen von Linné (Säugetiere,
Vögel, Reptilien, Fische) in die Gruppe der "Vertebraten"; das sind
Tiere, die eine Wirbelsäule oder ein Rückgrat besitzen. Die
beiden anderen Klassen (Insekten und Würmer) nannte Lamarck "Invertebraten".
Lamarck erkannte, dass man in den Klassen der Insekten und Würmer
die seltsamsten Überraschungen erleben konnte. Seine Untersuchungen
führten zu einer besseren Ordnung innerhalb dieser Klassen, so dass
sein System den Stand der aristotelischen Klassifikation nicht nur erreichte
sondern auch weiter verfeinerte. Zum Beispiel bemerkte er, dass die achtfüßigen
Spinnen nicht mit den sechsbeinigen Insekten, und dass der Hummer nicht
mit dem Seestern in einer Klasse zusammengefasst werden konnte.
Von 1815 bis 1822 schuf Lamarck schließlich ein gigantisches
siebenbändiges Werk mit dem Titel "Naturgeschichte der Invertebraten",
welches die moderne Zoologie der Invertebraten begründete . Dieses
Werk hatte ihn zum Nachdenken über die Möglichkeit einer Abstammungslehre
veranlasst. Seine Gedanken über diesen Gegenstand publizierte er
schon im Jahre 1801 ausführlicher jedoch in dem 1809 erschienenen
Buch mit dem Titel "Zoologische Philosophie". Lamarck war der Auffassung,
dass sich die Leistungsfähigkeit der Organe durch starken Gebrauch
im Laufe des Lebens erhöhe und dass nichtgebrauchte Organe verkümmerten.
Diese Fortentwicklung oder Degenerierung könne sich dann von Generation
zu Generation fortpflanzen (dies wird auch oft mit "Vererbung erworbener
Eigenschaften" bezeichnet).
Die damals gerade entdeckte Giraffe benutzte er als Beispiel, um seine
Gedanken zu erläutern. Eine primitive Antilope, die gern die Blätter
der Bäume abweidet, würde ihren Nacken mit aller Kraft nach
oben recken, um so viele Blätter wie möglich zu erreichen. Zunge
und Beine würden sich dabei ebenfalls strecken. Alle diese Körperteile
würden als Resultat buchstäblich etwas länger werden, und
diese Verlängerung, so nahm Lamarck an, würde sich auf die nächste
Generation vererben. Die neue Generation würde schon mit längeren
Gliedern beginnen und diese noch weiter strecken. Schrittweise würde
sich so die Antilope in eine Giraffe verwandeln.
Diese Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften war nicht aufrechtzuerhalten,
denn es gab für die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften
keine stichhaltige Begründung. Im Gegenteil legte alles zur Verfügung
stehende Beobachtungsmaterial die Annahme nahe, dass erworbene Eigenschaften
nicht erblich seien. Aber selbst wenn solche Eigenschaften vererbt
werden könnten, würde sich das nur auf Organe beziehen, die
einer freiwilligen Anpassung unterworfen wären, wie im Falle des
gestreckten Nackens. Wie wäre aber dann das gefleckte Fell der Giraffe
zu erklären, das dieser als schützende Tarnung dient? Wie würde
sich dieses Fell aus dem ungefleckten der Antilope bilden? Ist es vorstellbar,
dass die Vorfahren der Giraffe versucht haben könnten, sich eine
Tarnung zuzulegen?
Lamarck starb arm und vergessen. Seine Abstammungstheorie wurde verworfen,
dennoch hatte sie die Tore zu neuen Erkenntnissen aufgestoßen.
|