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Die Geologie als Motor der Evolutionstheorie
Die Hauptschwierigkeit, die jeder Abstammungslehre im Wege stand, war
die, dass die Arten sich offensichtlich nur langsam veränderten.
In der Menschheitsgeschichte gab es keinen Fall, in dem sich eine Art
in eine andere verwandelt hätte. Wenn ein solcher Prozess überhaupt
stattfände, müsste er sich daher außerordentlich langsam
vollziehen, vielleicht über Hunderttausende von Jahren erstrecken.
Aber während des Mittelalters und noch zu Beginn der Neuzeit nahmen
europäische Gelehrte die Bibel wörtlich und glaubten, das Alter
der Erde liege bei wenigen tausend Jahren. Nach einer solchen Auffassung
war ein Entwicklungsprozess schon aus rein zeitlichen Gründen nicht
möglich.
Das Jahr 1785 brachte eine Änderung. Der schottische Arzt James
Hutton (1726 - 97) betrieb Geologie als Hobby und veröffentlichte
ein Buch mit dem Titel "Theorie der Entstehung der Erdoberfläche".
In ihm machte er sich Gedanken, wie Wasser, Wind und Wetter langsam die
Erdoberfläche verändert hatten. Er behauptete, dass solche gigantischen
Veränderungen wie das Entstehen von Gebirgen, das Auswaschen von
Flusstälern und so weiter nur in ganz großen Zeiträumen
habe erfolgen können. Die Erde musste daher viele Millionen Jahre
alt sein.
Diese neue Theorie über das Alter der Erde wurde zunächst heftig
bekämpft. Man musste aber zugeben, dass dadurch die Fossilfunde,
für welche sich die Biologen eben erst zu interessieren begannen,
eine Erklärung fanden. Das Wort "Fossil" geht auf das lateinische
Wort für "ausgraben" zurück. Es wurde ursprünglich auf
jeden ausgegrabenen Gegenstand angewandt. Unter dem Ausgrabungsmaterial
erregten aber diejenigen versteinerten Objekte die größte Neugierde,
die Strukturen besaßen, welche denen lebender Organismen glichen.
Es erschien unwahrscheinlich, dass Steine gewisse Lebensformen rein zufällig
nachbilden könnten. Daher glaubten die meisten Gelehrten, Fossilien
seien auf irgendeine Weise zu Stein gewordene Lebewesen. Viele vertraten
die Ansicht, dass sie Reste von Geschöpfen seien, die bei Noahs Flut
umgekommen wären. Wenn dagegen die Erde so alt war, wie es Hutton
annahm, konnten die Fossilien außerordentlich alte Überreste
sein, bei denen die körperliche Substanz sehr langsam durch das sie
umgebende steinige Material des Erdbodens ersetzt worden war.
Durch William Smith (1769 - 1839), einen englischen Vermessungsingenieur,
der Geologe wurde, erhielt die Fossilienkunde neue Impulse. Bei der Vermessung
von Kanälen (die damals überall gebaut wurden) hatte er Gelegenheit,
Ausgrabungen zu beobachten. Er bemerkte, wie verschiedene Arten und
Formen von Gesteinen in parallelen Ablagerungsschichten oder Formationen
angeordnet waren. Weiter fiel ihm auf, dass jede Schicht ihre eigene
charakteristische Form von Fossilüberresten hatte, die nicht
in anderen Schichten gefunden werden konnten. Wie auch immer eine solche
Schicht verlief und undeutlich wurde oder sogar dem Auge in das Erdinnere
entschwand und erst viele Kilometer entfernt wieder auftauchte, sie behielt
ihre charakteristischen Fossilien. Schließlich konnte Smith die
verschiedenen Ablagerungen durch die darin aufgefundenen Fossilien identifizieren.
Wenn Huttons Ansicht richtig war, wäre es sinnvoll gewesen anzunehmen,
dass die Schichten in der Anordnung aufeinander lagen, in der sie sich
sehr langsam gebildet hatten, und dass eine bestimmte Schicht um so älter
war, je tiefer sie lag. Wenn die Fossilien wirklich die Überreste
von Lebewesen wären, dann müsste die zeitliche Ordnung ihrer
Existenz durch die Ordnung der Schichten, in denen sie gefunden wurden,
bestimmt werden können.
Die Fossilienfunde erregten die besondere Aufmerksamkeit des französischen
Biologen Georges Leopold Cuvier (1769 - 1832). Cuvier untersuchte
die Anatomie verschiedener Lebewesen, verglich sie sorgfältig und
betrachtete systematisch alle Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten.
Dadurch begründete er die vergleichende Anatomie. Diese Studien versetzten
Cuvier in die Lage, die notwendigen Beziehungen der Körperteile so
genau kennen zu lernen, dass er aus der Existenz einiger Knochen die Gestalt
anderer Knochen sowie die Art der zugehörigen Muskeln usw. ableiten
konnte. Schließlich gelang ihm eine gute Rekonstruktion des ganzen
Tierkörpers aus einer kleinen Anzahl von Teilen.
Es erschien natürlich, dass ein vergleichender Anatom auch an der
Klassifikation der Arten Interesse bekundete. Cuvier erweiterte Linnes
System, indem er dessen Klassen in noch größere Gruppen einteilte.
Eine nannte er "Vertebraten", wie das schon Lamarck getan hatte, dagegen
bezeichnete er den Rest nicht mit "Invertebraten". Vielmehr gliederte
er diese in drei Gruppen: Artikulaten (Gliederfüßler) - Schalentiere
mit Gelenken, wie Insekten und Krustazeen (Krebstiere) -, Mollusken (Schalentiere
ohne Gelenke, wie Muscheln und Schnecken) und Radiaten (alles übrige).
Die größten Gruppen nannte er "phyla" (Einzahl "phylum",
das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Stamm"). Seit den
Tagen Cuviers ist die Anzahl der Stämme vervielfacht worden, und
man kennt bis heute im Tier- und Pflanzenreich zusammen mehr als drei
Dutzend Stämme. Insbesondere ist der Stamm der Vertebraten auf einige
primitive Tiere ohne eigentliche Wirbelsäule ausgedehnt worden und
wird heute Stamm der Chordaten genannt.
Es war wieder sein Interesse an der vergleichenden Anatomie, durch welches
Cuvier sein eigenes Klassifikationssystem auf jenen charakteristischen
Eigenschaften aufbaute, welche Beziehungen der Strukturen und ihrer Wirkungsweise
anzeigten, anstatt die oberflächlichen Ähnlichkeiten zu benutzen,
die Linne leiteten. Cuvier wandte sein Klassifikationssystem hauptsächlich
auf Tiere an. Im Jahre 1810 wurde es jedoch von dem Schweizer Botaniker
Augustin Pyramus de Candolle (1778 -1841) auch auf Pflanzen übertragen.
Zwangsläufig dehnte Cuvier sein System auch auf Fossilien aus. Seinem
erfahrenen Blick - er konnte ganze Organismen aus wenigen Teilen aufbauen
- blieb es nicht verborgen, dass Fossilien nicht nur lebenden Organismen
glichen. Sie besaßen Eigenschaften, die sie eindeutig dem einen
oder anderen seiner Stämme zugehörig machten. Er konnte sie
sogar in die Untergruppen ihres entsprechenden Stammes einteilen. Dadurch
dehnte Cuvier biologisches Wissen bis in die weite Vergangenheit aus und
begründete die Wissenschaft der Paläontologie, die vorgeschichtliche
Lebensformen erforscht.
Die Fossilien schienen, wie sie von Cuvier gesehen wurden, Belege für
eine Entwicklungslehre der Arten zu sein. Je tiefer und älter ein
Fossil war, desto mehr unterschied es sich von den bestehenden Lebensformen.
Einige Fossilien konnten in eine solche Anordnung gebracht werden, dass
ein allmählicher Wandel erwiesen schien.
Da Cuvier ein frommer Mann war, konnte er die Möglichkeit evolutionärer
Veränderungen nicht akzeptieren. Statt dessen nahm er den anderen
Standpunkt ein, dass die Erde, obgleich sie sehr alt sei, periodisch Katastrophen
durchgemacht hätte, die alles Leben ausgelöscht hätten.
Nach jeder solchen Katastrophe würden neue Lebensformen erscheinen,
die sich von den vorher existierenden vollständig unterschieden.
Moderne Lebensformen (einschließlich derjenigen des Menschen)
wären nach der letzten Katastrophe entstanden. Nach dieser Ansicht
musste man keine evolutionären Prozesse annehmen, um die Fossilien
zu erklären. Die biblische Geschichte, die nur auf die Zeit nach
der letzten Katastrophe angewandt werden sollte, konnte somit unangetastet
bleiben.
Zur Erklärung der Verteilung der Fossilien genügten nach Cuviers
Auffassung vier Katastrophen. Als man aber mehr und mehr Fossilien entdeckte,
wurden die Dinge immer komplizierter, und einige von Cuviers Anhängern
postulierten schließlich nicht weniger als siebenundzwanzig Katastrophen.
Im Jahre 1830 begann der schottische Geologe Charles Lyell mit
der Publikation eines dreibändigen Werkes "Grundlagen der Geologie",
in welchem er die Ideen Huttons popularisierte, und er sammelte Beweismaterial
zur Erklärung dafür, dass die Erde nur allmählich Veränderungen
ohne Katastrophen unterworfen war. Die ständigen Untersuchungen an
Fossilienfunden bestätigten Lyells Thesen. Sie schienen nicht den
geringsten Anhaltspunkt für die Vernichtung allen Lebens zu ergeben.
Einige Formen überlebten alle Perioden, für die Katastrophen
angenommen worden waren. Tatsächlich haben einige der heutigen Lebensformen
unverändert viele Millionen Jahre existiert.
Die Katastrophentheorie hielt sich eine Weile unter den Anhängern
Cuviers, besonders in Frankreich. Aber nach dem Erscheinen von Lyells
Buch begann dieser Glaube langsam auszusterben. Die Katastrophentheorie
war die letzte wissenschaftliche Opposition gegen die Evolutionstheorie,
und als sie zusammenbrach musste notwendigerweise auf irgendeine Art der
Evolutionsbegriff formuliert werden. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
waren die Umstände reif für eine solche Entwicklung, und der
Mann, der sie zustande bringen sollte, war zur Stelle.
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