Schleiden, Brown, Flemming, van Beneden, Sutton - 19. Jh.
Die Mendelschen Gesetze hatten im Jahre 1900 eine viel größere
Bedeutung als 1866, denn in der Zwischenzeit waren bedeutende Entdeckungen
über die Zellen gemacht worden.
Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert konnte man auch mit verbesserten
Mikroskopen bei der Beobachtung von Zellen nicht viel erkennen. Die Zelle
war ein buchstäblich durchsichtiger Körper, genauso wie ihr
Inneres. Sie schien daher ein mehr oder weniger konturloser Klumpen zu
sein. Die Biologen mussten sich mit der Beschreibung der Größe
und Gestalt zufrieden geben. Gelegentlich beobachteten einige ein etwas
dichteres Gebiet in der Mitte (was wir heute Zellkern nennen). Der erste,
der dies als eine regelmäßige Erscheinung in der Zelle erkannte,
war der schottische Botaniker Robert Brown (1773 - 1858), der sich
darüber im Jahre 1831 äußerte.
Als Schleiden sieben Jahre später die Zelltheorie formulierte, schenkte
er dem Zellkern erhebliche Beachtung. Er war davon überzeugt, dass
dieser etwas mit der Zellteilung zu tun hatte, und dass neue Zellen aus
der Oberfläche des Zellkerns entsprangen. Nägeli konnte im Jahre
1846 dies als unzutreffend nachweisen. Aber Schleiden war durch seine
Intuition nicht auf eine völlig falsche Fährte geführt
worden. Der Zellkern hatte tatsächlich etwas mit der Zellteilung
zu tun. Die Untersuchungen der Einzelheiten dieses Vorgangs ließen
aber solange auf sich warten, bis ein neues Verfahren zur Sichtbarmachung
des Zellinneren gefunden worden war.
Ein solches Verfahren konnte mit Hilfe der organischen Chemie entwickelt
werden. Unter der Führung von Berthelot lernten die organischen Chemiker
sehr schnell, organische Substanzen herzustellen, die in der Natur nicht
existierten. Viele davon waren farbenprächtig. Tatsächlich
sah das Jahr 1850 die Anfänge der gigantischen industriellen Entwicklung
zur Herstellung synthetischer Farbstoffe.
Wenn nun das Zellinnere nicht homogen wäre, dann bestünde durchaus
die Möglichkeit, dass sich einige Teile davon mit einer besonderen
chemischen Substanz verbänden und sie absorbierten, während
das bei anderen Teilen nicht geschähe. Nähme man nun als chemische
Substanz einen Farbstoff, dann würden einige Teile des Zellinneren
gefärbt, während andere farblos blieben. Vorher nicht gesehene
Einzelheiten würden dank solcher "Farbflecken" sichtbar werden.
Eine Reihe von Biologen experimentierten in dieser Richtung. Einer der
besonders erfolgreichen war der deutsche Zytologe Walter Flemming (1843
- 1905). Flemming untersuchte Tierzellen und beobachtete, dass sich im
Zellkern verstreute Substanzteile befanden, welche den verwendeten Farbstoff
sehr stark absorbierten. Dadurch hoben sich diese deutlich gegen den farblosen
Hintergrund ab. Flemming nannte dieses absorbierende Material "Chromatin"
(nach dem griechischen Wort für Farbe).
Wenn Flemming ein Stück wachsenden Gewebes färbte, tötete
er natürlich die Zellen ab, aber jede Zelle war so in einem bestimmten
Stadium ihrer Teilung festgehalten.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte Flemming die
Veränderungen an der Chromatinsubstanz in ihrem Ablauf darstellen,
die während der Zellteilung vor sich gingen.
Er fand, dass zu Beginn des Teilungsprozesses die Chromatinsubstanz
zu kurzen fadenähnlichen Gebilden zusammenfließt, die später
"Chromosomen" (gefärbte "Körper") genannt werden sollten. Da
diese fadenähnlichen Chromosomen so charakteristisch für die
Zellteilung waren, nannte Flemming den Vorgang "Mitose" (abgeleitet von
einem griechischen Wort für "Faden").
Eine andere Veränderung, die den Beginn der Mitose kennzeichnete,
bezog sich auf die Zentralspindel oder "Aster" (ein griechisches Wort
für "Stern"). Sie erhielt ihren Namen deshalb, weil sie ein winziges
punktförmiges Objekt mit radial angeordneten Fäden war, so wie
man gewöhnlich einen Stern zeichnet. Die Aster teilte sich in zwei
Hälften, die sich zu entgegengesetzten Seiten der Zelle bewegten.
Die feinen Strahlen, die von einer zur anderen Aster verliefen, schienen
die Chromosomen festzuhalten, die sich auf die Äquatorialebene der
Zelle angeordnet hatten.
Im entscheidenden Augenblick der Zellteilung erzeugte jedes Chromosom
eine Kopie seiner selbst. Die Doppelchromosomen zogen sich auseinander,
und ein Chromosom jedes Paares wanderte zu einem, das zweite zum anderen
Ende der Zelle. Die Zelle teilte sich dann, indem sie eine neue Wand in
der Mitte bildete. Wo sich vorher eine Zelle befand, waren jetzt zwei
Tochterzellen,
Jede mit der gleichen Menge der Chromatinsubstanz (wegen der Verdoppelung
der Chromosomen) wie sie ursprünglich in der Mutterzelle vorhanden
gewesen war. Flemming publizierte seine Resultate im Jahre 1882.
Diese Arbeit wurde durch den belgischen Zytologen Eduard van Beneden
(1846 - 1910) weitergeführt. 1887 war er imstande, zwei wichtige
Aussagen über Chromosomen zu beweisen.
Zuerst zeigte er, dass ihre Anzahl in den verschiedenen Zellen des Organismus
gleich war und dann, dass jede Art eine charakteristische Anzahl besaß.
(Man weiß z. B. heute, dass jede menschliche Zelle Sechsundvierzig
Chromosomen besitzt.)
Weiterhin entdeckte Van Beneden, dass bei der Bildung der Geschlechtszellen
(Ei- und Samenzellen) der Zellteilung eine Verdoppelung der Chromosomen
nicht vorausging. Jede Ei- und Samenzelle erhielt daher nur die Hälfte
der ursprünglichen Anzahl der Chromosomen.
Alle diese Untersuchungen über Chromosomen erschienen nach der Entdeckung
der Mendelschen Arbeit durch De Vries auf einmal in neuem Licht. Im Jahr
1902 wies der amerikanische Zytologe Walter S. Sutton (1876 - 1916)
darauf hin, dass sich die Chromosomen wie die Mendelschen Erbfaktoren
verhalten. Die Anzahl der Chromosomenpaare ist in jeder Zelle gleich.
Die Fähigkeit zur Ausbildung besonderer Merkmale wird damit auf alle
Zellen übertragen, denn bei jeder Zellteilung bleibt die Anzahl der
Chromosomen infolge ihrer Verdopplung sorgfältig erhalten, und jedes
Chromosom erzeugt ein identisches Doppel, das für die neue Zelle
bestimmt ist.
Bei der Bildung einer Eizelle (oder einer Samenzelle) erhält jede
nur die Hälfte der Chromosomen (eins von jedem Paar). Die ursprüngliche
Anzahl stellt sich aber bei Vereinigung des Eies mit einer Samenzelle
zum befruchteten Ei wieder her. Wenn sich dieses dann zur Bildung eines
unabhängigen Organismus immer weiter teilt, bleibt die Anzahl der
Chromosomen wieder erhalten. Im neuen Organismus stammt ein Chromosom
jedes Paares über die Eizelle von der Mutter und das zweite über
die Samenzelle vom Vater. Diese Zusammenfassung der Chromosomen bei jeder
Generation führt dazu, solche rezessive Merkmale, die vorher durch
dominante Merkmale überdeckt waren, wieder zum Vorschein zu bringen.
Die beständig neuen Kombinationen erzeugen weiterhin alle möglichen
Merkmale, die dann der natürlichen Auslese unterworfen sind.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war damit eine Art Höhepunkt
in der Evolutionstheorie und der Vererbungslehre erreicht worden. Dies
sollte sich jedoch nur als Vorspiel zu großen Umwälzungen in der Biologie erweisen.
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