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Der Beginn der Ernährungswissenschaft, Boussingault, Liebig
- 19. Jh.
Wie sehr auch die Darwinsche Evolutionstheorie einer durch natürliche
Selektion bedingten Entwicklung vielen verankerten Glaubensinhalten der
Menschheit zuwiderlief, so wurde doch das Wunder des Lebens durch sie
erst verdeutlicht. Aus ganz einfachen Anfängen heraus hatte das Leben
unter dem Zwang der Umwelt unaufhörlich danach gestrebt, immer größere
Vielfalt und Kraft zu entfalten. In der veränderungslosen Welt des
Unbelebten gibt es nichts, was sich damit vergleichen ließe. Gebirge
können entstehen, aber Jahrmillionen vorher hat es schon andere Gebirge
gegeben. Dagegen sind die Formen des Lebens immer neu.
Die Darwinsche Theorie kann daher bei oberflächlicher Betrachtung
zugunsten des Vitalismus, der großen, von der menschlichen Vorstellung
vollzogenen Trennung zwischen Leben und Materie, ausgelegt werden. Tatsächlich
erreichte die Popularität des Vitalismus in der letzten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts einen neuen Höhepunkt.
Die große Gefahr für den Vitalismus des neunzehnten Jahrhunderts
lag weniger in der Evolutionstheorie als in den Fortschritten der organischen
Chemie. Gegen die Chemie verteidigten sich die Vitalisten mit dem Eiweißmolekül
und hielten ihre Stellung fast bis zum Ende des Jahrhunderts. Im übrigen
beschäftigte sich auch die Biochemie des neunzehnten Jahrhunderts
sehr stark mit jenem Eiweißmolekül.
Die Bedeutung von Eiweiß (Protein) für das Leben wurde
erst durch den französischen Physiologen Francois Magendie (1783
bis 1855) geklärt.
Die wirtschaftlichen Veränderungen infolge der Napoleonischen Kriege
hatten eine Periode der Lebensmittelknappheit verursacht. Bei den Regierungen
erwachte ein Verantwortungsgefühl für die Lage des Volkes, und
eine Kommission mit Magendie an der Spitze wurde eingesetzt, um zu prüfen,
ob gehaltvolle Nahrungsmittel aus einem Stoff hergestellt werden könnten,
der ebenso billig und leicht erhältlich wie Gelatine war.
1816 begann Magendie seine Untersuchungen damit, dass er Hunden eine
eiweißfreie Kost verabreichte, die nur aus Zucker, Olivenöl
und Wasser bestand. Die Tiere verhungerten. Kalorien allein reichten also
nicht aus. Eiweiß war ein wesentlicher Bestandteil der Nahrung.
Es ergab sich weiter, dass nicht alle Eiweiße gleich brauchbar
waren, denn unglücklicherweise starben die Hunde auch dann noch,
wenn Gelatine das einzige Eiweiß in ihrer Nahrung war. So wurde
die moderne Ernährungswissenschaft begründet, die sich zum Ziel
gesetzt hat, den Zusammenhang zwischen Nahrung, Leben und Gesundheit zu
erforschen.
Die Eiweißkörper unterschieden sich dadurch von den Kohlehydraten
und Lipiden, dass die ersteren Stickstoff, die letzteren aber keinen enthielten.
Aus diesem Grunde konzentrierte sich das Interesse auf den Stickstoff
als notwendigen Bestandteil des lebenden Organismus.
In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann der französische
Chemiker Jean Baptiste Boussingault (1802-87) den Stickstoffbedarf der
Pflanzen zu untersuchen. Dabei ergab sich, das einige Pflanzen, wie
z. B. die Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen etc.), ohne weiteres
auf stickstofffreiem Boden gediehen, wenn sie mit stickstofffreiem Wasser
begossen wurden. Sie wuchsen nicht nur, sondern ihr Stickstoffgehalt nahm
zu. Boussingault konnte daraus den Schluss ziehen, dass sie ihren Stickstoff
aus der Luft entnahmen. Wir wissen heute, dass dies von den Pflanzen nicht
direkt bewirkt wird, dass vielmehr einige Stickstoff bindende Bakterien
dafür verantwortlich sind, die in Wurzelknollen wachsen.
Boussingault zeigte weiter, dass Tiere den Stickstoff nicht durch die
Luft, sondern nur durch die Nahrung aufnehmen. Er verschärfte die
Resultate von Magendie, indem er den Stickstoffgehalt von einigen Nahrungsmitteln
genau analysierte und ihn mit der Wachstumsgeschwindigkeit verglich. Bei
Benutzung nur eines Nahrungsmittels als Stickstoffquelle konnte tatsächlich
ein funktioneller Zusammenhang festgestellt werden. Dieser Zusammenhang
führte aber bei verschiedenen Nahrungsmitteln zu verschiedenen Wachstumsraten
bei gleichem Stickstoffgehalt.
Aus diesem Sachverhalt durfte man folgern, dass einige Eiweißarten
für die Ernährung des Körpers besser geeignet waren als
andere. Später konnte Boussingault aufgrund empirischer Ermittlungen
eine Liste aufstellen, welche die relative Brauchbarkeit verschiedener
Nahrungsmittel als Eiweißquelle enthielt.
Diese Untersuchungen wurden von dem deutschen Chemiker Justus von
Liebig (1805-73) weitergeführt, der in den folgenden Jahrzehnten
ausführlichere Listen dieser Art herstellte. Liebig glaubte, dass
der Grund für das Nachlassen der Fruchtbarkeit des Bodens nach jahrelanger
Bebauung in dem allmählichen Verbrauch gewisser Mineralien des Bodens
läge, die für das Wachstum der Pflanzen notwendig waren. Pflanzliche
Gewebe enthielten geringe Mengen an Natrium, Kalium, Kalzium und Phosphor,
die von löslichen Verbindungen aus dem Boden stammen mussten und
die von der Pflanze absorbiert werden konnten. Seit Menschengedenken war
es üblich, die Fruchtbarkeit des Bodens durch Stallmistdüngung
zu verbessern. Für Liebig bedeutete dies nicht die Anreicherung des
Bodens mit irgendwelchen "Lebensstoffen", sondern den Ersatz der ihm entzogenen
Mineralstoffe durch den Mineralgehalt des Düngers. Warum nicht dem
Boden die Mineralien in reiner, sauberer und geruchloser Form beigeben,
und die Verwendung des Stallmistes einstellen?
Liebig war der erste, der mit chemischen Düngemitteln experimentierte.
Seine landwirtschaftlichen Produkte erwiesen sich zunächst als Fehlschläge,
da er sich zu sehr auf die Aussagen von Boussingault verließ, wonach
einige Pflanzen ihren Stickstoff aus der Luft nähmen. Als Liebig
erkannte, dass die meisten Pflanzen doch Stickstoff aus löslichen
Stickstoffverbindungen (Nitraten) des Bodens beziehen, fügte er diese
seinem Gemisch hinzu und erhielt damit brauchbare Düngemittel.
Boussingault und Liebig gelten heute als Begründer der Agrarchemie.
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