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James Lind und Frederick Cowland Hopkins
Die Keimtheorie beherrschte die Geister der meisten Ärzte während
des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts, aber es gab auch einige,
die ihr Widerstand entgegensetzten. Der deutsche Pathologe Virchow war
der bedeutendste unter ihnen. Er zog es vor anzunehmen, daß eine
Krankheit eher durch eine innere Störung als durch einen äußeren
Erreger verursacht würde. Er war außerdem ein Mann von starkem
sozialem Verantwortungsbewusstsein, der einige Jahrzehnte hindurch in
der Berliner Stadtpolitik und im deutschen Reichstag eine Rolle spielte.
Er setzte bedeutende Verbesserungen im Hinblick auf die Wasserversorgung
und Kanalisation durch. Pettenkofer (vergl. Seite go) war ein anderer
Arzt dieses Typs. Er und Virchow gehören zu den Begründern der
öffentlichen Hygiene (Erforschung von der Verhinderung von Krankheiten
in der Gemeinschaft).
Solche Verbesserungen verhinderten die leichte Übertragbarkeit von
Krankheiten (gleichgültig, ob Virchow an die Keimtheorie glaubte
oder nicht) und waren sicher genauso wirkungsvoll bei der Bekämpfung
der Epidemien, die Europa bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts heimgesucht
hatten, wie die direkte Anwendung der Keimtheorie.
Dass in einer Zeit, in der man sich der Bedeutung der Krankheitskeime
bewusst war, Hippokrates Interesse an der Reinlichkeit wiederum zur Geltung
kam, konnte erwartet werden.
Überraschend dagegen war vielleicht die Tatsache, dass sein Rat
für eine gute und vielseitige Ernährung ebenfalls seine alte
Anziehungskraft zurückerhielt, und das nicht nur aus Gründen
des allgemeinen Wohlbefindens, sondern als spezifische Methode zur Verhinderung
bestimmter Krankheiten. Während der Zeit, in der die Keimtheorie
eine ganze Generation erfasste, also von 1870 - 1900, galt die Auffassung,
eine wenig gehaltvolle Ernährung als Krankheitsursache anzunehmen,
als längst veraltet, und doch gab es starke Anzeichen dafür,
dass sie durchaus nicht veraltet war.
So verbrachten zB. in den Anfängen des Zeitalters der Entdeckungsreisen
Menschen lange Monate auf Schiffen und lebten nur von Nahrungsmitteln,
die während der Reise nicht verdarben, denn Kühlverfahren waren
noch unbekannt. In jenen Tagen war der Skorbut die gefürchtete Krankheit
der Seeleute. Ein schottischer Arzt, James Lind (1716-94), bemerkte
die Tatsache, dass Skorbut immer mit einförmiger Kost einherging
und zwar nicht nur an Bord eines Schiffes, sondern auch in vom Feinde
belagerten Städten und in der Gefangenschaft. Könnten nicht
fehlende Bestandteile in der Nahrung die Ursache der Krankheit sein?
Im Jahr 1747 versuchte es Lind mit verschiedenen Nahrungsmitteln bei
vom Skorbut befallenen Seeleuten und fand heraus, dass Zitrusfrüchte
hervorragend geeignet waren, Erleichterung zu bewirken. Langsam gewann
diese Erkenntnis an Boden. Der große englische Forschungsreisende
Kapitän James Cook (1728 bis 1779) gab seiner Mannschaft
auf seinen Fahrten zwischen 1770 - 79 im Pazifik Zitrusfrüchte zu
essen und verlor nur einen Mann an Skorbut. Im Jahre 1795 begann die
britische Marine unter dem Druck eines verzweifelten Kriegs mit Frankreich
ihren Seeleuten zwangsweise Limonensaft zu verabreichen. Dadurch wurde
der Skorbut auf britischen Schiffen ausgerottet.
Ohne die entsprechenden Erfolge in den grundlegenden Naturwissenschaften
vollzieht sich der auf reiner Erfahrung beruhende Fortschritt nur langsam.
Während des neunzehnten Jahrhunderts bezogen sich die wesentlichen
Entdeckungen hinsichtlich der Ernährung auf die Bedeutung des Eiweißes
und im besonderen auf die Tatsache, dass einige Eiweißarten "vollständig"
waren und das Leben förderten, sofern sie in der Nahrung vorkamen,
während andere, wie z. B. Gelatine, durch ihre "Unvollständigkeit"
das nicht vermochten.
Eine Erklärung für diesen Unterschied unter den Eiweißkörpern
fand man erst, als man die Natur des Eiweißmoleküls besser
erforscht hatte. Im Jahre 1820 wurde das komplexe Molekül der Gelatine
durch Behandlung mit Säure zerlegt und ein einfaches Molekül,
man nannte es "Glyzin", isoliert. Glyzin gehört zu einer Klasse von
Verbindungen, die man "Aminosäuren" nennt.
Man nahm zunächst an, dass Glyzin der Baustein des Eiweißes
sei, genauso wie der einfache Zucker, Glukose, der Baustein der Stärke
war. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ergab sich aber, daß
diese Theorie unzulänglich war. Aus verschiedenen Eiweißarten
erhielt man andere einfache Moleküle. Alle gehörten zur Klasse
der Aminosäuren, unterschieden sich aber in ihren Einzelheiten. Eiweißmoleküle
werden nicht nur aus einer, sondem aus einer Reihe von Aminosäuren
aufgebaut. Um 1900 kannte man ein Dutzend verschiedener Aminosäuren
als Bausteine.
Es war daher gut möglich, dass die Eiweiße sich nur in dem
relativen Mengenverhältnis der verschiedenen Aminosäuren unterschieden.
Auch war es denkbar, daß einem bestimmten Eiweiß eine oder
mehrere bestimmte Aminosäuren fehlten und daß diese Aminosäuren
lebensnotwendig waren.
Der englische Biochemiker Frederick Cowland Hopkins (1861 bis 1947)
war der erste, der dies bestätigen sollte. Im Jahre 1900 hatte
er eine neue Aminosäure, das Tryptophan, entdeckt und ein chemisches
Verfahren entwickelt, das sein Vorhandensein anzeigte. Das aus Getreide
isolierte Eiweiß "Zein" sprach auf dieses Verfahren nicht an und
enthielt daher kein Tryptophan. Zein war ein unvollständiges Eiweiß
und würde das Leben nicht erhalten, wenn es das einzige Eiweiß
in der Nahrung wäre. Wenn man jedoch etwas Tryptophan zum Zein hinzufügte,
wurde das Leben von Versuchstieren verlängert.
Ähnliche Experimente, die man in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten
Jahrhunderts durchführte, ließen daran keinen Zweifel, dass
einige Aminosäuren im Körper eines Säugetieres aus Substanzen
gebildet werden konnten, die im Gewebe gewöhnlich vorhanden waren.
Einige konnten aber nicht auf diese Weise erzeugt werden und mussten daher
in der Kost bereits vorgebildet sein. Gerade das Fehlen einer oder mehrerer
solcher "wesentlicher Aminosäuren" machte das Eiweißmolekül
unvollständig und verursachte Krankheit und unter Umständen
den Tod.
Dadurch wurde der Begriff des "Nahrungsfaktors" eingeführt:
Das ist jede Verbindung, die der Körper nicht selbst herstellen kann,
die aber zur Aufrechterhaltung seines Lebens in der Nahrung vorhanden
sein muss. Natürlich stellten die Aminosäuren keine ernsten
medizinischen Probleme dar, so interessant sie auch für Ernährungswissenschaftler
sein mochten. Ein Mangel an Aminosäuren wurde im allgemeinen durch
künstliche und absichtlich einseitige Ernährung verursacht.
Eine natürliche Ernährungsweise gab dem Körper gewöhnlich
genügende Mengen jeder Aminosäure, selbst wenn die Nahrung nicht
reichhaltig war.
Wenn eine Krankheit wie der Skorbut durch Limonensaft geheilt werden
konnte, war die Annahme sinnvoll, dass der Limonensaft einen fehlenden
Nahrungsfaktor beisteuerte. Es war jedoch unwahrscheinlich, daß
der Nahrungsfaktor eine Aminosäure war. Tatsächlich konnten
alle Bestandteile des Limonensafts, die den Biologen des neunzehnten Jahrhunderts
bekannt waren, einzeln oder zusammen den Skorbut nicht heilen. Der Nahrungsfaktor
musste daher eine Substanz sein, die nur in sehr geringen Mengen erforderlich
war, und die chemisch von den üblichen Komponenten der Nahrung ganz
verschieden sein musste.
Das Rätsel war jedoch nicht so schwer zu lösen, wie es scheinen
mochte. Noch als man den Begriff der wesentlichen Aminosäure aufstellte,
wurden andere, schwieriger zu erkennende Nahrungsfaktoren entdeckt, die
nur in sehr geringen Mengen erforderlich waren. Wie der Zufall es wollte,
geschah dies nicht durch die Untersuchung des Skorbuts.
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