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Albrecht von Haller, Franz Joseph Gall, Paul Broca, Gustav Theodor Fritsch,
Eduard Hitzig, Wilhelm von Waldeyer, Camillo Golgi, Santiago Roman y Cajal
Die große Komplexität des menschlichen Geistes bringt es mit
sich, dass der Glaube an die Psychiatrie sehr stark eine Angelegenheit
des persönlichen Standpunktes bleibt. Die verschiedenen Schulen vertreten
ihre eigenen Ansichten, und es gibt wenige objektive Wege, um sich für
die eine oder andere zu entscheiden. Wenn ein weiterer Fortschritt gemacht
werden soll, kann er nur dann kommen, wenn die grundlegende Wissenschaft
vom Nervensystem (die Neurologie) ausreichend entwickelt ist.
Die Neurologie nahm ihren Anfang mit dem Schweizer Physiologen Albrecht
von Haller (1708-1777), der in den sechziger Jahren des achtzehnten
Jahrhunderts ein achtbändiges Lehrbuch über die menschliche
Physiologie schrieb. Vor seiner Zeit wurde allgemein angenommen, dass
die Nerven hohl seien. Ein mysteriöser "Geist" oder eine Flüssigkeit
fließe in ihnen auf ähnliche Weise wie das Blut in den Venen.
Haller verwarf dies jedoch und interpretierte die Nervenreaktionen völlig
neu mit Hilfe experimenteller Forschungen.
Er erkannte z. B., dass Muskeln "reizbar" waren: Eine kleine Anregung
eines Muskels rief eine scharfe Kontraktion hervor. Wie er weiter zeigte,
geschah dies auch schon dann, wenn nur die am Muskel befindlichen Nerven
gereizt wurden. Der Nerv war der reizbarere von beiden, und Haller folgerte
daraus, dass die Bewegung der Muskeln nicht so sehr durch ihre direkte
Reizung, als vielmehr durch Nervenreize gelenkt würde.
Haller zeigte ferner, dass das Gewebe selbst keine Empfindungen hat,
sondern dass die Nerven Impulse sammeln und weiterleiten, die dann die
Empfindungen auslösen. Weiter konnte er zeigen, dass alle Nerven
zum Gehirn oder zum Rückenmark führen die damit deutlich als
Zentren der, Sinneswahmehmungen und Reflexe ausgewiesen sind. Am Tierversuch
beobachtete er, zu welchen Bewegungen oder Lähmungserscheinungen
die Reizung oder Beschädigung verschiedener Gehirnpartien führte.
Die Untersuchungen von Haller wurden durch den deutschen Arzt Franz
Joseph Gall (1758-1828) weitergeführt, der über dieses Gebiet
ab 1796 Vorlesungen hielt. Er zeigte, dass die Nerven nicht einfach zum
Gehirn führen, sondern zu der "grauen Masse" auf der Oberfläche
des Gehirns. Die "weiße Masse" unterhalb der Oberfläche hielt
er für ein verbindendes Mittel.
Wie schon Haller, so glaubte auch Gall, dass bestimmte Partien des Gehirns
bestimmte Teile des Körpers kontrollierten. Diesen Standpunkt führte
er weiter zu der extremen Ansicht, dass gewisse Teile des Gehirns nicht
nur für bestimmte Sinneswahrnehmungen und bestimmte Muskelbewegungen
zuständig seien, sondern auch für alle möglichen Gefühlsregungen
und Eigenschaften des Charakters. Diese Auffassung wurde von seinen Nachfolgern
bis zur Absurdität getrieben. Sie glaubten, dass übermäßig
ausgebildete Gefühls- und Charaktereigenschaften durch Feststellen
von Beulen auf der Schädeldecke entdeckt werden könnten. So
kam man zu der Pseudowissenschaft der "Phrenologie".
Die Unsinnigkeit der Phrenologie verdeckte die Tatsache, dass Gall zum
Teil recht hatte und das Gehirn wirklich spezialisierte Gebiete besaß.
Diese Möglichkeit wurde durch den französischen Gehirnchirurgen
Paul Broca aus der Pseudowissenschaft herausgenommen und wieder einer
echten wissenschaftlichen Untersuchung zugeführt. Als Resultat einer
Reihe von Gehirnsektionen konnte er im Jahre 1861 zeigen, dass bei Patienten,
welche die Fähigkeit zu sprechen verloren hatten, eine bestimmte
Stelle im oberen Teil des Gehirns, des Großhirns, beschädigt
war. Die Stelle befand sich bei der dritten Windung des linken Stirnlappens,
die auch heute noch "Brocasche Windung" heißt.
Um das Jahr 1870 gingen zwei deutsche Neurologen, Gustav Theodor Fritsch
(1838-1891) und Eduard Hitzig (1838-1907) über Brocas Untersuchungen
noch hinaus. Sie legten das Gehirn eines lebenden Hundes frei und
reizten verschiedene Teile mit einer elektrischen Nadel. Es ergab sich,
dass der Reiz auf einen bestimmten Teil des Gehirns bestimmte Muskelbewegungen
zur Folge hatte und auf diese Weise gelang es, die Teile de Körpers
gewissermaßen auf das Gehirn abzubilden. Die beiden Forscher konnten
zeigen, dass die linke bzw. rechte Gehirnseite denrechten bzw. linken
Teil des Körpers kontrolliert.
Es gab nun keinen Zweifel mehr daran, dass das Gehirn nicht nur den Körper
kontrolliert, sondern dies auch in einer genau bestimmbaren Weise tut.
Es schien zumindest eine begründete Aussicht dafür zu bestehen,
alle geistigen Funktionen auf die eine oder andere Weise mit der Gehirnphysiologie
in Verbindung bringen zu können. Dies würde den Geist zur bloßen
Erweiterung des Körpers machen und drohte, die erhabensten Kräfte
des Menschen dem Mechanismus zu unterwerfen.
Noch grundlegender war, dass die sich gerade entwickelnde Zelltheorie
schließlich auf das Nervensystem angewendet wurde. In der Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts hatten die Biologen Nervenzellen im Gehirn
und Rückenmark entdeckt, waren sich aber über die Natur der
Nervenfasern noch nicht im klaren. Der deutsche Anatom Wilhelm von
Waldeyer (1836-1921) klärte die Sache auf. Im Jahre 1891 stellte
er die Behauptung auf, dass die Fasern feine Fortsätze der Nervenzellen
seien und mit diesen eine Einheit bildeten. Das ganze Nervensystem bestehe
daher aus "Neuronen", d.h. aus den eigentlichen Nervenzellen und den zugehörigen
Nervenfasern. Diese Auffassung bezeichnet man als die "Neuronentheorie".
Waldeyer zeigte weiter, dass die Fasererweiterungen verschiedener Zellen
sich sehr nahe kommen können, ohne sich jedoch zu berühren.
Die Lücken zwischen Neuronen nannte man später "Synapsen".
Die Neuronentheorie erhielt ihre feste Grundlage durch die Arbeiten
des italienischen Zytologen Camillo Golgi (1844-1926) und des spanischen
Neurologen Santiago Roman y Cajal (1852 bis 1934). Im Jahre 1873 entwickelte
Golgi einen Zellfärbstoff, der aus Silbersalzen bestand. Mit Hilfe
dieses Materials machte er innerhalb der Zelle Strukturen sichtbar, die
so genannten "Golgi Körper".
Golgi wandte seine Färbmethode besonders auf Nervengewebe an und
fand sie hierfür gut geeignet. Er konnte bis dahin unbekannte Einzelheiten
sichtbar machen und die diffizilen Vorgänge in den Nervenzellen mit
zuvor unerreichter Genauigkeit erkennen sowie die Synapsen deutlich zeigen.
Trotzdem widersprach er Waldeyers Neuronentheorie, als diese bekannt wurde.
Ramon y Cajal trat jedoch sehr stark für die Neuronentheorie ein.
Mit einer verbesserten Golgischen Färbetechnik konnte er Einzelheiten
nachweisen, welche die Neuronentheorie über jeden Zweifel erhaben
machte. Außerdem erforschte er die Zellstruktur des Gehirns, des
Rückenmarks und der Netzhaut des Auges.
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