Karl Landsteiner
Der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts brachte der Serologie einen Erfolg
von ziemlich unerwarteter Art. Er bezog sich nicht auf Krankheiten, sondern
auf die individuellen Unterschiede des menschlichen Blutes.
Immer wieder in der Geschichte der Medizin hatten Ärzte gelegentlich
versucht, den bei einer ausgedehnten Blutung entstandenen Verlust durch
Blutübertragung von einem gesunden Menschen oder sogar von einem
Tier auszugleichen. Trotz gelegentlichen Erfolgs wurde der Tod durch eine
solche Behandlung oft nur beschleunigt. Die meisten europäischen
Nationen hatten daher gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Versuche
der Bluttransfusion verboten.
Der österreichische Arzt Karl Landsteiner (1868-1943) fand
den Schlüssel zu diesem Problem.
Er entdeckte im Jahre 1900, dass sich das menschliche Blut hinsichtlich
der Fähigkeit des Serums unterscheidet, rote Blutkörperchen
zu agglutinieren (d. h. sie zusammenklumpen zu lassen). Eine Art von Blutserum
vermag die roten Blutkörperchen der Person A, nicht aber die der
Person B, eine andere dagegen in umgekehrter Weise die von B, nicht aber
die von A, zum Verklumpen zu bringen. Wieder andere können die
von beiden und noch andere weder die von A noch die von B agglutinieren.
Landsteiner hatte bis zum Jahre 1902 das menschliche Blut klar in vier
"Blutgruppen" oder "Bluttypen" eingeteilt, die er A, B, AB und 0 nannte.
Nachdem dies einmal erreicht war, konnte man mühelos zeigen, dass
die Transfusion bei gewissen Kombinationen gefahrlos war, während
sie bei anderen zu einer Agglutination der einfließenden roten Zellen
mit möglicherweise schlimmen Folgen führte. Die Bluttransfusion,
welche sich auf die sorgfältige Bestimmung der Blutgruppen des Patienten
und des Spenders gründete, wurde sofort eine wichtige Bereicherung
der medizinischen Praxis. Während der folgenden vierzig Jahre entdeckten
Landsteiner und andere zusätzliche Blutgruppen, die aber die Transfusion
nicht berührten. Alle diese Blutgruppen waren jedoch nach den Mendelschen
Regeln erblich (was man zuerst 1910 entdeckte) und bilden inzwischen die
Grundlage für die sogenannten "Vaterschaftstests". So können
z. B. zwei Eltern der Blutgruppe A kein Kind der Blutgruppe B haben. Ein
solches Kind ist entweder im Krankenhaus verwechselt worden, oder es besitzt
einen anderen als den vermuteten Vater.
Die Blutgruppen liefern auch eine annehmbare Lösung für das
jahrhundertealte "Rassenproblem". Menschen haben immer andere Menschen
in Gruppen eingeteilt, gewöhnlich auf der Grundlage subjektiven und
gefühlsmäßigen Empfindens, wobei ihre eigene Gruppe als
"überlegen" eingestuft wurde. Auch heute noch neigt der Laie dazu,
die Menschheit gemäß ihrer Hautfarbe in Rassen einzuteilen.
Der belgische Astronom Lambert Adolph Jacques Quetelet (1796 bis 1874)
zeigte als erster, inwieweit Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen
nicht scharf, sondern graduell und eher eine Frage der Nuancierung als
der Artzugehörigkeit sind. Er wandte statistische Methoden auf die
Untersuchung des Menschen an und kann daher als Begründer der Anthropologie
(des Studiums der Naturgeschichte des Menschen) gelten.
Er zeichnete Messungen des Brustumfangs bei schottischen Soldaten oder
der Größe französischer Wehrdienstpflichtiger u. ä.
auf und beobachtete um 1835, dass diese Maße sich vom Durchschnitt
in der gleichen Weise unterschieden, wie man das beim Würfeln oder
bei der Verteilung der Einschussstellen auf einer Zielscheibe findet.
Auf diese Weise trat der Zufall in den Bereich des menschlichen Daseins,
und es wurde wieder einmal gezeigt, dass das Leben den gleichen Gesetzen
gehorcht wie die unbelebte Natur.
Der schwedische Anatom Anders Adolf Retzius (1796-1860) versuchte
solche anthropologischen Messungen auf das Rassenproblem anzuwenden. Mit
"Kranialindex" bezeichnete er die mit 100 multiplizierte Verhältniszahl
der Schädelbreite zur Schädellänge. Ein Kranialindex von
weniger als 80 war "dolichocephalisch" (langer Kopf), über 80 "brachycephalisch"
(breiter Kopf). Auf diese Weise konnten die Europäer in "Nordische"
(groß und dolichocephal), in "Mediterrane (klein und dolichocephal)
und "Alpine" (klein und brachycephalisch) eingeteilt werden.
Diese Einteilung ist nicht befriedigend und wissenschaftlich nicht aussagekräftig.
Sie ist außerhalb Europas nicht anwendbar, und schließlich
ist der Kranialindex keine feste Größe und auch nicht durch
Geburt bestimmt. Er kann sich nämlich bei Kindern aufgrund von Vitaminmangel
sowie durch Umwelteinflüsse ändern.
Nachdem einmal die Blutgruppen entdeckt waren, erschien der Gedanke reizvoll,
diese zur Klassifikation der Menschen anzuwenden. Zunächst einmal
sind sie kein sichtbares Kennzeichen und können daher schlecht für
die Zwecke des Rassenkampfes missbraucht werden. Sie sind von Geburt an
vorhanden, unterliegen keinen Umwelteinflüssen und vermischen sich
zwanglos durch die Generationen hindurch, denn weder Männer noch
Frauen lassen sich bei der Wahl ihres Partners durch die Frage nach der
Blutgruppe leiten.
Keine
einzige Blutgruppe kann genutzt werden, um eine Rasse von einer anderen
zu unterscheiden, aber die durchschnittliche Verteilung aller Blutgruppen
erlangt Bedeutung, wenn große AnzahIen verglichen werden. Auf diesem
Gebiet der Anthropologie ist der amerikanische Immunologe William Clouser
Boyd (geb 1903) führend. Während der dreißiger Jahre
reisten er und seine Frau in verschiedene Gebiete der Erde und stellten
die Blutgruppen der Völker fest. Durch diese Daten und solche, die
ihm von anderen zugänglich gemacht wurden, konnte er 1956 die Menschen
in dreizehn Gruppen einteilen. Die meisten davon folgten ganz natürlich
geographischen Einteilungen. Eine Überraschung war jedoch die Existenz
einer "früheuropäischen" Gruppe, die durch das ungewöhnlich
häufige Auftreten einer Blutgruppe mit Namen "Rh minus" gekennzeichnet
war. Die früheuropäische Gruppe ist im großen und ganzen
durch moderne Europäer ersetzt worden, aber ein Rest - die Basken
- existiert noch heute in der Bergwelt der westlichen Pyrenäen.
Die Blutgruppenhäufigkeit kann auch dazu benutzt werden, den Verlauf
prähistorischer Völkerwanderungen oder sogar solcher, die nicht
prähistorisch sind, zu rekonstruieren. Zum Beispiel ist der Prozentsatz
an Blutgruppe B am höchsten unter den Einwohnern Zentralasiens und
fällt ab, wenn man westwärts oder ostwärts geht. Dass sie
in Westeuropa überhaupt auftritt, wird von einigen den periodischen
Invasionen nach Europa zugeschrieben, die während des Altertums und
des Mittelalters durch zentralasiatische Nomaden wie z. B. die Hunnen
und Mongolen erfolgten.
Heute hat es die moderne Gentechnik ermöglicht, wesentlich genauere
Untersuchungen über Verwandtschaften und genetische Ähnlichkeiten
oder Verschiedenheiten unter den Völkern zu machen. Die als erblich
erkannten Blutgruppen bildeten jedenfalls den Beginn, sich über die
Verschiedenheit der Menschen intensivere Gedanken zu machen.
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