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Es ist das Vorrecht des Dichters, von jener Genauigkeit der Darstellung
abzugehen, die dem Wissenschaftler geboten ist. Diese Freiheit, die "poetische
Lizenz" im herkömmlichen Sinne, befreit den Dichter aber nicht davon,
in einem höheren Sinne "naturwahr zu bleiben". Auch die aufs höchste
stilisierte dichterische Gestaltung vom Natürlichen kann richtig
oder falsch sein. Oft geht diese Richtigkeit, ja Genauigkeit, weit über
das hinaus, was der Dichter wissen kann. Wie großartig ist es zum
Beispiel, wenn Selma Lagerlöf in ihrem Buch "Die wunderbare Reise
des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" den Stimmfühlungslaut
dieser Vögel mit den Worten: "Hier bin ich, wo bist du?" wiedergibt.
Ich bin Naturwissenschaftler, nicht Künstler. Ich werde mir durchaus
keine Freiheiten und "Stilisierungen" gestatten. Übrigens glaube
ich, dass es dieser Freiheiten gar nicht bedarf, dass es vielmehr genügt,
sich wie bei streng wissenschaftlichen Arbeiten so auch hier bloß
an die Tatsachen zu halten, will man dem Leser aufschließen, wie
schön das Tier ist. Denn die Wahrheiten der organischen Natur sind
von liebenswürdiger und ehrfurchtgebietender Schönheit, je tiefer
man in ihre Einzelheiten und Besonderheiten eindringt.
Es ist unsinnig zu meinen, die Sachlichkeit der Forschung, das Wissen,
die Kenntnis der natürlichen Zusammenhänge schmälerten
die Freude am Wunderbaren der Natur. Im Gegenteil: der Mensch wird um
so tiefer und nachhaltiger von der lebendigen Wirklichkeit, der Natur
bewegt werden, je mehr er über sie weiß.
Konrad Lorenz
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