|
An einem frühen Sonntagmorgen im beginnenden März, da es schon
ein wenig nach Osterhasen riecht, gehen wir durch den hochstämmigen
Rotbuchenwald, der nirgends schöner und nur an wenigen Orten ebenso
schön wächst wie bei uns im Wienerwald. Wir nähern uns
einer Waldwiese. Die hohen glatten Säulen der Rotbuchen machen den
bis untenhin belaubten Hainbuchen des Waldrandes Platz, und wir gehen
langsamer und vorsichtiger. Ehe wir durch das letzte Gebüsch dringen
und aus der Deckung hinaus auf die freie Fläche der Wiese treten,
tun wir, was alle wilden Tiere und alle guten Tierkenner, Wildschweine,
Leoparden, Jäger und Zoologen im gleichen Fall tun: Wir verhoffen
und suchen der Deckung, ehe wir sie verlassen, jenen Vorteil abzugewinnen,
den sie für Jäger wie für Gejagte bieten kann, nämlich
den, sehen zu können, ohne selbst gesehen zu werden.
Und diese uralte Strategie bewährt sich auch hier, wir sehen tatsächlich
jemanden, der uns noch nicht wahrgenommen hat, da der Wind von ihm her
weht: Mitten auf der Waldwiese sitzt ein großer, dicker Hase.
Er sitzt mit dem Rücken zu uns, macht aus seinen Ohren ein großes
V, äugt und lauscht offensichtlich nach etwas am nicht fernen gegenüberliegenden
Rande der Wiese. Von dort löst sich bald ein zweiter, ebenso großer
Hase und kommt langsam und würdig auf den ersten zugehoppelt. Zuerst
erfolgt eine gemessene Begrüßung, nicht unähnlich jener
zeremoniösen zweier Hunde. Aber aus ihr heraus entwickelt sich rasch
eine merkwürdige Kreisbewegung: Die beiden Hasen rennen in winzigem
Kreise, jeder mit dem Kopf dicht an der Blume des anderen, einander nach.
Und plötzlich bricht aus der angesammelten Spannung der Kampf hervor,
wie eben Krieg zu beginnen pflegt, just in dem Augenblick, wenn man aus
dem langen gegenseitigen Androhen der Partner zu dem Schluss gekommen
ist, dass sich ja keiner von beiden getraut, tätlich zu werden. Hoch
aufgerichtet stehen die Hasen auf den Hinterläufen einander gegenüber
und trommeln mit den Vorderläufen aufeinander los. Dann springen
sie gegeneinander in die Höhe und tun unter Quietschen und Murksen
irgendetwas Fürchterliches und Durchgreifendes mit den Hinterläufen,
das aber zu schnell geht, als dass man ohne Zeitlupenauge über die
Mechanik der Sache Klarheit gewinnen könnte. Nun haben sie vorläufig
genug und laufen einander wieder, nur viel rascher als vorher, nach. Hierauf
folgen neue, noch erbittertere Tätlichkeiten. So vertieft sind die
beiden Kämpfer, dass es mir gelingt, samt kleiner Tochter noch wesentlich
näher an sie heranzuschleichen, obwohl das nicht ganz geräuschlos
abgeht. Jeder normale und vernünftige Hase hätte uns längst
gehört, aber im März ist der Hase bekanntlich verrückt,
im Englischen sogar sprichwörtlich: Mad as a march hare. Das Hasenturnier
sieht so urkomisch aus, dass die kleine Tochter trotz drakonischer Erziehung
zum Stillesein beim Beobachten von Tieren, einen kleinen Gluckser nicht
unterdrücken kann. Das ist natürlich selbst für Märzhasen
zu viel, zwei Fluscher nach zwei verschiedenen Richtungen, und die Wiese
ist leer. Genau in der Mitte schwebt noch, leicht wie ein Weidensamen,
eine große Flocke Hasenwolle in der Luft.
Nicht nur komisch, nein, beinahe rührend wirkt dieses Duell der
Waffenlosen, dieser wütende Zorn der Sanftmütigen. Sind sie
aber wirklich so sanftmütig? Hat man in einem zoologischen Garten
jeweils zwei Adler, Löwen oder Wölfe so aneinander geraten sehen,
ist einem das Lachen wohl fern gewesen. Und doch ist keinem der beiden
Gewaltigen mehr geschehen, als eben den beiden Hasen. Die meisten Menschen
sind gewohnt, einen durchaus unrichtigen moralisierenden Maßstab
an räuberische und Pflanzen fressende Tiere zu legen. Schon im deutschen
Märchen, wie auch in Goethes Reineke Fuchs, werden "die Tiere"
als eine Gemeinschaft dargestellt, die der menschlichen Gesellschaft vergleichbar
ist, so etwa, als wären "die Tiere" sämtlich Wesen
einer und derselben Art, wie "die Menschen" es wirklich sind.
Es wird daher dem Tiere das Töten von Tieren genauso übel angerechnet
wie einem Menschen, tötet er seinesgleichen. Dem Fuchs, der einen
Hasen reißt, wird diese Tat nicht so angerechnet wie dem menschlichen
Jäger, der aus den gleichen Motiven einen Hasen schießt, sondern
ganz so, wie man es dem Herrn Oberförster anrechnen würde, wenn
er gewohnheitsmäßig Bauern abschösse und zum Abendessen
briete. Das "böse" Raubtier wird zum Mörder gebrandmarkt.
Warum überhaupt "Raub"Tier, warum nicht "Jagd"Tier?
Schon im Wort liegt eine falsch moralisierende Vermenschlichung. Die Begriffe
Raub und Mord beziehen sich doch nur auf Vergehen wider den Mitmenschen,
den Artgenossen. Und dem Artgenossen gegenüber benehmen sich die
meisten Raubtiere genauso sozial und "anständig" wie harmlose
Pflanzenfresser. Genauso? Wir wollen einmal näher zusehen.
Zunächst sei aber noch eine andere Geschichte erzählt.
Noch viel harmloser als ein Hasenkampf sieht der Streit zweier Turtel-
oder Lachtauben aus. Das zarte Picken des Schnäbelchens, der
leichte Klaps der weichen Flügelchen wirkt geradezu rührend
und ist fürwahr nicht dazu angetan, ernstlich zu verletzen - sollte
man meinen! Ich wollte einst aus bestimmten Gründen Kreuzungen der
afrikanischen Lachtaube mit der einheimischen, noch etwas zarteren Turteltaube
züchten und setzte zu diesem Zwecke einen zahmen, jung aufgezogenen
Turteltauber zusammen mit einer weiblichen Lachtaube in einen geräumigen
Käfig. Die anfänglich kleine Reiberei zwischen den beiden prospektiven
Liebesleuten nahm ich nicht weiter ernst. Wie sollten diese Sinnbilder
der Liebe und Sanftmut einander Schaden zufügen können?
Ich fuhr also getrost nach Wien. Als ich am nächsten Tag heimkam,
bot sich mir ein grauenvoller Anblick. Der Turteltauber lag in einer Käfigecke
auf dem Boden. Hinterkopf, Oberseite des Halses und der ganze Rücken
bis an die Schwanzwurzel waren nicht nur völlig kahl gerupft, sondern
so geschunden, dass sie eine einzige Wundfläche bildeten. Auf der
Mitte dieser Fläche, wie ein Adler auf seiner Beute, stand das zweite
Friedenstäubchen. Mit dem versonnenen Gesichtsausdruck, der dem vermenschlichenden
Beobachter diese Vögel so sympathisch erscheinen lässt, pickte
das Vieh pausenlos in den Wunden des buchstäblich "Unterlegenen"
herum. Raffte sich der auf, um mit letzter Kraft zu entkommen, war es
sofort wieder hinter ihm her, klapste ihn mit den weichen Flügelchen
zu Boden und setzte sein erbarmungsloses, langsames Tötungswerk fort,
obwohl es selbst davon schon so müde war, dass ihm immer wieder die
Augen zufallen wollten. Außer bei manchen Fischen, die sich im Kampf
ebenfalls die Oberhaut abraspeln, habe ich niemals an einem Wirbeltier
ähnlich grässliche Verletzungen gesehen, die von einem Artgenossen
zugefügt worden waren.
Aber wie müssen dann erst Raubtiere gegen ihresgleichen wüten,
höre ich fragen, jene blutdürstigen Bestien, denen die Natur
gewaltige Waffen verlieh! Wie schrecklich muss etwa ein Kampf zweier Wölfe
sein, wenn beinahe waffenlose Pflanzenfresser, wie die Tauben, einander
zu Tode schinden.
Ja, so sollte man meinen. Doch vielleicht weiß der Leser schon,
dass man das nicht sollte; weil man nämlich überhaupt nichts
meinen soll, wenn die Möglichkeit besteht nachzusehen, wie es sich
verhält. So wollen wir denn als Naturforscher auch nachschauen, was
geschieht, wenn zwei Wölfe, große, wilde, reißende
Wölfe, die Sinnbilder aller schonungslosen Grausamkeit, ernstlich
miteinander kämpfen. Du brauchst, um dies zu sehen, weder nach Alaska
zu Jack Londons Schlittenhunden und Wölfen zu fahren, eigentlich
nicht einmal mir in den herrlichen Zoo nach Whipsnade bei London zu folgen,
wo ein großes Wolfsrudel in einem gewaltigen, mit Fichten bestandenen
Gehege wie in Freiheit lebt und wo ich einst Gelegenheit hatte, einen
ernstlichen Kampf zweier Wolfsrüden zu beobachten - du brauchst überhaupt
nichts zu tun, als dich an etwas zu erinnern, was du zweifellos schon
Dutzend Mal gesehen hast: nämlich kämpfende Haushunde. Auch
sie verwenden noch denselben unverbrüchlichen Kampfkomment wie ihre
wilden Vorfahren, die Wölfe und Schakale.
Zwei Hunde, ältere Rüden, begegnen einander auf der
Straße. Steifbeinig, die Schwänze hoch aufgerichtet, Nacken-
und Schulterhaar leicht gesträubt, schreiten sie aufeinander zu.
Je näher sie kommen, desto höher, steifer und gesträubter
sind sie anzusehen, immer langsamer rücken sie vor, nicht Kopf an
Kopf, Stirn gegen Stirn, wie drohende Hähne es tun, sondern aneinander
vorbei, so dass sie schließlich Flanke an Flanke und Kopf an Schwanz
dicht nebeneinander stehen. Dann schreibt ein strenges Zeremoniell vor,
dass jeder die Hinter-Region des anderen berieche. Überkommt einen
der Hunde in diesem Entwicklungsstadium der Ereignisse die Angst, so klappt
plötzlich sein Schwanz nach unten, und er entzieht mit einer raschen
weichen Wendung um hundertachtzig Grad dem anderen die Beriechungsmöglichkeit.
Bleiben aber beide Hunde in Imponierstellung, bleiben beide Schwänze
als starre Standarten steil aufgerichtet, zieht sich das Beriechen von
hinten meist lange hin. Noch kann alles sich in Wohlgefallen lösen,
noch ist es möglich, dass zuerst einer, dann beide Schwänze
rasch und kleinschlägig zu wedeln anfangen und dass aus der ganzen,
für den Beschauer nervös und peinlich wirkenden Situation nichts
Schreckliches entsteht, sondern ein lustiges Hundespiel.
Tritt diese Lösung jedoch nicht ein, wird die Lage immer gespannter
und allmählich bedrohlich. Die Nasen beginnen sich zu runzeln und
mit einem ekelhaften brutalen Ausdruck aufzustülpen, die Lippen sich
zu kräuseln, so dass die Eckzähne sichtbar werden, und zwar
bei jedem Tier nur auf der dem Gegner zugewandten Seite, dann fangen die
Hunde mit den Tatzen entsetzlich zu scharren an, ein tiefes Grollen steigt
aus der Brust empor, und auf einmal, jäh, entbrennt der Kampf mit
lautem, nervenaufpeitschendem Geschrei.
Ähnlich verlief der oben erwähnte Kampf zweier Wolfsrüden,
den ich in Whipsnade sah. Leiser, und doch viel bedrohlicher als das der
Haushunde, klang das leidenschaftlich verhaltene Grollen der Wölfe,
das mich auf diesen Zusammenstoß aufmerksam machte. Ein riesiger,
hellgrauer alter Wolf und ein kaum kleinerer, aber sichtlich jüngerer,
standen einander gegenüber und kreisten mit bewundernswerter "Fußtechnik"
in engstem Zirkel. Die furchtbaren Brechscheren der Gebisse flitzten in
blitzraschem Wechsel von Biss und Gegenbiss, das Auge vermochte nicht
zu folgen. Noch war eigentlich nichts Ernstes geschehen, stets traf das
Schnappen des einen Wolfes nur auf die weißen Zähne des anderen,
die den Biss parierten. Nur die Lippen der Kämpfenden schienen ein
paar Schmisse davongetragen zu haben. Doch der kleinere Wolf wurde mehr
und mehr zurückgedrängt, und ich ahnte, dass der erfahrenere
Gegner darauf aus war, ihn gegen das Umzäunungsgitter zu manövrieren.
Tatsächlich stieß der Jüngere jetzt gegen den Draht, stolperte,
und schon war der Alte über ihm. Und nun geschieht das Merkwürdige,
nämlich genau das Gegenteil dessen, was man erwarten würde.
Schlagartig ist das Umherwirbeln der grauen Körper zur Ruhe gekommen.
Beide Tiere stehen still, ganz still, Schulter an Schulter gedrängt,
aber nunmehr umgekehrt zueinander orientiert, also beide Köpfe in
gleicher Richtung. Beide knurren böse, der Alte in tiefstem Bass,
der Jüngere in hohen Kopftönen. Doch man beachte die Stellung
der beiden Raubtiere genau: Der alte Wolf hat sein Maul dicht, ganz
dicht am Hals des jüngeren. Und dieser hält seinen Kopf abgewendet,
er bietet die Krümmung seines Halses, die verwundbarste Stelle seines
Körpers, schutzlos dem Feinde dar! Keine drei Zentimeter von
der gespannten Wölbung seines Halses, da, wo die große Vene
dicht unter der Haut liegt, schimmern die Fangzähne des Gegners unter
den böse emporgezogenen Lefzen hervor. Während vorher, im Kampf
also, das ganze Bestreben beider Gegner darauf gerichtet war, den Bissen
des anderen nur die Zähne, den einzigen unverwundbaren Teil des Körpers
darzubieten und gerade den Hals vor dem angreifenden Feinde zu schützen,
sieht es jetzt so aus, als böte der Unterlegene absichtlich denjenigen
Körperteil, in den jeder Biss tödlich sein muss. Und es sieht
nicht nur so aus, sondern es ist erstaunlicherweise tatsächlich so.
Die gleiche Szene ist, wie gesagt, auch immer und überall an gewöhnlichen
Straßenkötern zu sehen. Ich wählte deshalb die Wölfe
von Whipsnade als Beispiel, weil sich am wilden Tier, das zum Symbol der
Grausamkeit geworden ist, dieses Verhalten eindrucksvoller und überzeugender
beschreiben lässt, als am allzu vertrauten Haustier.
Wir haben unsere beiden Wölfe in einer äußerst spannenden
und gespannten Situation verlassen. Das war kein Stilfehler, denn diese
einzigartige Situation dauert auch in Wirklichkeit etliche Sekunden, die
dem Beschauer wie Minuten, dem unterlegenen Wolf aber wahrscheinlich wie
Stunden vorkommen. Jeden Augenblick ist man gewärtig, dass der Stärkere
zubeißt, dass seine Zähne die Halsvene des Besiegten zerreißen.
Der überlegene Wolf oder Hund beißt aber in dieser Situation
sicher nicht zu. Man sieht ihm an, dass er es eigentlich gern möchte,
aber einfach nicht kann! Ein Hund oder ein Wolf, der in der eben geschilderten
Weise dem Gegner den Hals darbietet, wird niemals ernstlich gebissen.
Der andere grollt und knurrt, klappt mit dem Gebiss und führt sogar,
ohne gebissen zu haben, die Bewegungsweise des Totschüttelns in leerer
Luft aus. Allerdings besteht diese merkwürdige Hemmung, tatsächlich
zuzubeißen, nur, solange der Unterlegene die "Demutstellung"
beibehält. Da sie den Kampf so plötzlich stoppt, befindet sich
in diesem Augenblick der Sieger häufig in irgendeiner vertrackten
Stellung über dem Besiegten. So zu verharren, mit der Schnauze am
Hals des Unterlegenen, wird dem "moralischen Sieger" - zubeißen
kann er ja nicht - allmählich langweilig. Hat er sich nun einige
Schritte entfernt, versucht der Unterlegene häufig rasch das Weite
zu gewinnen. Das gelingt ihm jedoch zunächst meistens nicht; sobald
er nämlich seine starre Demutstellung verlässt, ist der andere
wie ein Gewitter über ihm, und der unglückliche Besiegte muss
wieder mit abgewandtem Kopf und dargebotenem Halse in Demut erstarren.
Es scheint, als warte der Sieger nur darauf, dass der andere seine Demutstellung
aufgebe und ihm dadurch das heißersehnte Zupacken ermögliche.
Zum Glück für den Besiegten empfindet der Sieger nach dem Kampf
den unwiderstehlichen Drang, den Ort, an dem die Schlacht ausgefochten
wurde, mit einer "Duftmarke", gewissermaßen einem öffentlichen
Anschlag, als sein persönliches Eigentum zu zeichnen, mit anderen
Worten, er muss am nächsten aufrecht stehenden Gegenstand sein Bein
heben. Und diese Zeremonie der Besitzergreifung benützt der unterlegene
Hund dann gewöhnlich, um sich still davonzumachen.
Wie so oft, wird uns hier an einer zufälligen Beobachtung ein Rätsel
bewusst, das uns allenthalben umgibt, uns alltäglich in der verschiedensten
Verkleidung entgegentritt. Soziale Hemmungen sind nämlich durchaus
nicht selten, sondern so häufig, dass sie uns meist als etwas sehr
Selbstverständliches vorkommen, das wenig anregt nachzudenken. Eine
banale Sprichwortweisheit sagt, dass eine Krähe der anderen nicht
das Auge aushackt; ausnahmsweise hat hier das Sprichwort recht. Eine mit
dir befreundete Krähe oder ein Kolkrabe hackt so wenig nach dem Auge
des menschlichen Freundes wie nach dem des Artgenossen. Wenn ich Roa,
den Kolkraben, auf meinem Arm sitzen hatte und absichtlich mein Gesicht
so seinem Schnabel näherte, dass mein offenes Auge in die Nähe
der gefährlichen, abwärts gekrümmten Spitze kam, so tat
Roa etwas ganz Erschütterndes: Er nahm mit einer nervös, ja
beinahe gequält wirkenden Bewegung den Schnabel zurück, weg
von meinem Auge, wie ein Vater, der sich rasiert, das Rasiermesser weghält,
wenn seine kleine Tochter mit täppischen Händchen danach greift.
Nur in einer ganz bestimmten Weise kam Roa je mit dem Schnabel meinen
Augen nahe: bei der so genannten "sozialen Hautpflege". Viele
höhere Tiere gesellig lebender Arten, Vögel, aber auch Säugetiere,
so vor allem die Affen, tun dem Artgenossen den Liebesdienst, seine Hautpflege
an solchen Körperstellen zu übernehmen, die ihm selbst nicht
zugänglich sind. Bei Vögeln ist es also vor allem der Kopf und
die Umgebung der Augen, bei deren Reinhaltung und Pflege das Tier auf
die Mithilfe des Artgenossen angewiesen ist. Als ich die Dohle schilderte,
habe ich schon von den Stellungen gesprochen, durch die der Vogel einen
anderen auffordert, ihm das Kopfgefieder zu putzen. Hielt ich Roa meinen
Kopf etwas schief und mit halb geschlossenen Augen hin, genau so, wie
es Rabenvögel untereinander tun, so verstand er diese Gebärde
sofort, obwohl ich kein gesträubtes Kopfgefieder habe, und begann
mich zu putzen. Dabei zwickte er mich niemals in die nackte Haut. Diese
ist nämlich bei Rabenvögeln sehr zart und würde eine gröbere
Behandlung nicht vertragen. Mit wunderbarer Präzision zog er jedes
erreichbare Härchen putzend durch seinen Schnabel. Roa arbeitete
dabei mit jenem Ernst und Eifer, der auch "lausende" Affen und
operierende Chirurgen auszeichnet. Das ist kein Witz: Die soziale Hautpflege
der Menschenaffen ist nämlich nicht darauf gerichtet, Ungeziefer
zu fangen - Affen haben meist keines -, sie beschränkt sich auch
nicht auf die Reinigung der Haut, sondern dient ebenso zu recht interessanten
Operationen: So werden gar nicht ungeschickt Dornen ausgezogen und kleine
Unreinheiten der Haut entfernt.
Das Manipulieren des riesigen, böse gekrümmten Rabenschnabels
am offenen Auge eines Menschen sieht natürlich geradezu bedrohlich
aus, weshalb ich immer wieder von Beobachtern dieses Vorgangs die Warnung
zu hören bekam, man könne doch nicht wissen . . . Raubtier bleibe
Raubtier . . . und was dergleichen Weisheiten mehr sind. Ich pflegte darauf
mit der paradoxen Behauptung zu antworten, der Warner sei für mich
gefährlicher als der Rabe. Es sei immer wieder vorgekommen, dass
Menschen plötzlich von Verfolgungswahnsinnigen totgeschossen worden
seien, die ihre Wahnvorstellungen mit der gefährlichen Schlauheit
und Verstellungskunst mancher derartiger Kranker verbargen. Ein solcher
Kranker könne, zugegeben mit geringster Wahrscheinlichkeit, immerhin
auch der Ratgeber sein. Dass aber ein gesunder, erwachsener Kolkrabe plötzlich
aus bisher unbekanntem Grunde seine Augenhackhemmung verliere, gebe es
überhaupt nicht, sei unermeßlich viel unwahrscheinlicher als
ein plötzlicher Angriff des wohlmeinenden Ratgebers.
Warum hat der Hund die geschilderte Halsbeißhemmung, der Rabe die
Hemmung, dem Freund ins Auge zu hacken? Warum hat die Lachtaube keinerlei
"Sicherung gegen gemeinen Mord"? Eine wirklich ursächliche
Antwort auf dieses "Warum" vermögen wir nicht zu geben.
Sie würde sicherlich eine historische Erklärung des Vorganges
bedeuten, in welchem sich stammesgeschichtlich diese Hemmungen herausgebildet
haben, Hand in Hand mit der Herausbildung der gefährlichen Waffen
des Jagdtiers. Wozu das waffentragende Jagdtier derartige Hemmungen braucht,
ist ja ohne weiteres klar. Würde der Kolkrabe hemmungslos, wie er
nach irgendwelchen anderen; beweglichen und glänzenden Gegenständen
pickt, nach dem Auge seines Nestgeschwisters, seiner Gattin oder seiner
Jungen hacken, nun, dann gäbe es längst keine Kolkraben mehr.
Gleiches wäre der Fall, wenn Wolf oder Hund unberechenbar und ungehemmt
plötzlich in den Hals des Rudelgenossen beißen und die Totschüttelbewegung
ausführen könnten, wie sie es an beliebigen, sonst zum Beißen
geeigneten Gegenständen gerne tun oder wie etwa jeder junge Dackel
den Pantoffel seines Herrn beißt und schüttelt.
Die Lachtaube braucht eine derartige Hemmung nicht, weil das Tier
nur in geringerem Ausmaße zu verletzen vermag, dagegen seine Fähigkeit
zu fliehen so gut entwickelt ist, dass sie ausreicht, den Vogel vor solchen
Feinden zu bewahren, die ganz andere Angriffswaffen besitzen als ein Täubchen,
dessen Schnabelstoß kaum ein winziges Federchen ausrupft; ehe es
zu einem zweiten kommt, ist die Taube, die sich unterlegen fühlt,
längst fort. Nur unter den unnatürlichen Bedingungen enger Käfighaft,
die der besiegten Taube die Möglichkeit zu rascher Flucht nehmen,
kommt es überhaupt zum Ausdruck, dass die Lachtaube keinerlei Hemmungen
hat, die ein Verletzen und Martern von Artgenossen verhindern. Ähnlich
hemmungslos erweisen sich sehr viele "harmlose" Pflanzenfresser,
wenn man ihrer mehrere in enger Gefangenschaft zusammenhält. Einer
der ekelhaftesten, hemmungslosesten und blutdürstigsten Mörder
ist auch das zweite, nach der Taube beliebteste Symbol der Sanftmut, nämlich
der von Felix Salten bis zum leichten Brechreiz verherrlichte Rehbock
"Bambi".
Dieses bösartige Vieh hat noch dazu eine Waffe, ein Geweih, doch
merkt man verflucht wenig von einer Hemmung, sie anzuwenden. Die Art "kann
sich das leisten", da die Fluchtfähigkeit auch des schwächsten
Rehes ausreicht, um sich den Angriffen des stärksten Bockes zu entziehen.
Man kann nur in ungewöhnlich großen Gehegen einen Rehbock zusammen
mit weiblichen Tieren seiner Art halten. In engerem Gehege treibt er jedoch
jeden Artgenossen, auch "Damen", schließlich in eine Ecke
und bringt sie mitleidlos um.
Die einzige "Sicherung" gegen Mord, die das Reh hat, besteht
darin, dass der Vorstoß des angreifenden Rehbocks verhältnismäßig
langsam erfolgt. Der Bock prescht nicht mit gesenktem Haupt in wilden
Sätzen auf den Gegner zu, wie dies zum Beispiel ein Widder tut, sondern
er sucht, gewissermaßen vorsichtig tastend, mit seinem Geweih nach
dem des Gegners, und erst wenn er festen Widerstand fühlt, erfolgt
der tödlich ernste Vorstoß. Zahme Rehböcke verursachen
nach den statistischen Erhebungen des amerikanischen Zoodirektors Hornaday
alljährlich mehr Unglücksfälle als gefangene Löwen
und Tiger, und zwar wohl vor allem deshalb, weil der unkundige Mensch
das langsame Herankommen des Rehbocks nicht als ernst gemeinten Angriff
erkennt, ja, oft genug es nicht einmal ernst nimmt, wenn der Bock, mit
dem Geweih tastend, schon gefährlich intim wird. Ganz plötzlich
erfolgt dann Ruck auf Ruck der erstaunlich starke, bohrende Vorstoß
der Waffe, und du hast Glück gehabt, wenn du noch rechtzeitig mit
deinen Händen einen Griff an den Stangen gefunden hast. Dann setzt
es einen schweißtreibenden und händezerschindenden Ringkampf,
in dem auch ein starker Mann kaum mehr des Bockes Herr wird, es sei denn,
dass es ihm gelingt, irgendwie an die Seite des Biestes zu kommen und
seinen Hals nach hinten zu biegen. Man "scheniert" sich natürlich,
um Hilfe zu rufen - bis man eine Geweihsprosse im Bauch hat.
Wenn also ein reizender, zahmer Rehbock in eigenartigem Stechschritt,
das Geweih graziös schwenkend, freundlich spielerisch auf dich zukommt,
so hau ihm mit einem Spazierstock, einem Stein oder der bloßen Faust
- aber kräftig - seitlich an die Schnauze (Pardon, Aser), bevor er
sein Geweih an deinen Leib bringen kann.
Und nun aufrichtig geurteilt: Wer ist nun eigentlich ein "gutes"
Tier; mein Freund Roa, dessen sozialen Hemmungen ich ohne geringste Nervosität
und völlig bedenkenlos mein Augenlicht anvertrauen konnte, oder jenes
sanfte Täubchen, das in stundenlanger angestrengter Arbeit seinen
Artgenossen zu Tode marterte? Wer ist ein "böses" Tier;
der Rehbock, der, wenn sie ihm nicht entrinnen können, selbst Frauen
und Kindern seiner Art den Bauch aufschlitzt, oder der Wolf, der nicht
einmal den verhassten Feind beißen kann, wenn dieser an seine Gnade
appelliert?
Man möge bedenken, worin die Demutgebärde, der Appell an die
soziale Hemmung des Überlegenen eigentlich besteht: nämlich
darin, dass ihm die Verletzung, ja die Tötung des Besiegten erleichtert
wird, darin, dass alle Hindernisse, die der eben noch verzweifelt sich
Wehrende den Angriffen seines Gegners entgegengesetzt hat, plötzlich
beseitigt werden! Alle Demutsgebärden und - stellungen sozialer Tiere,
die wir bisher kennen, beruhen auf demselben Prinzip. Immer bietet der
Gnadeflehende seinem Angreifer die verletzbarste Stelle seines Körpers,
genauer gesagt diejenige, gegen die jeder mit Tötungsabsicht geführte
Angriff gerichtet ist. Bei den allermeisten Vögeln ist dies der Hinterkopf.
Will eine Dohle einer anderen gegenüber ihre Unterwerfung ausdrücken,
so duckt sie sich etwas und dreht dem zu besänftigenden Artgenossen
den Hinterkopf zu, so recht verlockend zum Hineinhacken. Möwen, aber
auch Reiher, präsentieren dem Überlegenen die Oberseite ihres
Kopfes, indem sie den Hals lang und flach vorstrecken, also durch eine
Stellung, die den Gnadeflehenden besonders wehrlos macht.
Bei sehr vielen Hühnervögeln endet der Kampf der Männer
damit, dass der eine der Kämpfer zu Boden geworfen, niedergehalten
und dann vom Sieger nach Lachtaubenart skalpiert wird. Nur eine einzige
Art kennt in diesem Falle Gnade: der Truthahn. Und nur er verfügt
dementsprechend über eine spezifische Demutsgebärde, die auch
hier wieder das vorwegnimmt, was der tätliche Angriff zu erreichen
trachtet. Hat ein Puter in dem wilden und grotesken Ringkampf, den diese
Vögel aufführen, seinen Teil abbekommen, legt er sich ganz unvermittelt
mit lang vorgestrecktem Hals flach auf den Boden. Der Sieger benimmt sich
dann sehr ähnlich, wie ich es oben von Hunden und Wölfen geschildert
habe, das heißt, er möchte gern und kann nicht, er geht, immer
noch in Drohstellung, rund und rund um den still Daliegenden herum, bringt
es aber nicht über sich, nochmals nach dem Wehrlosen zu hacken oder
zu treten.
Tragisch ist es, wenn Truthahn und Pfau aneinander geraten, was
nicht selten geschieht, da beide als Artverwandte auch in den Ausdrucksbewegungen
ihrer Männlichkeit einander ähnlich genug sind, um vom Gegner
verstanden zu werden. Trotz größerer Stärke und höherem
Gewicht unterliegt der Truthahn fast regelmäßig, weil der Pfau
besser fliegt und eine andere Kampfesweise hat. Während der rotbraune
Amerikaner sich zum Ringkampf anschicken will, ist der blaue Inder schon
hochgeflogen und schlägt ihm die messerscharfen Sporen ein. Der Indian
empfindet diesen Verstoß gegen den Kampfkomment seiner Art mit Recht
als "unfair", und obwohl er noch voll bei Kräften ist und
es daher nicht nötig hätte, wirft er den Schwamm in den Boxring,
das heißt, er legt sich in der oben beschriebenen Weise nieder.
Und nun geschieht etwas ganz Scheußliches: Der Pfau versteht diese
putersche Gebärde der Ergebung nicht, sie sagt ihm nichts und löst
daher auch keine Hemmungen in ihm aus. Er hackt und tritt weiter nach
dem wehrlos daliegenden Puter, und wenn man nicht zufällig hinkommt,
ist es um diesen geschehen; denn je mehr Tritte und Schläge er bekommt,
desto fester bleibt er in seine Demutsreaktion eingeklinkt. Niemals jedoch
kommt er auf den Gedanken aufzuspringen und davonzulaufen.
Für die starr-instinktive Natur und das hohe stammesgeschichtliche
Alter derartiger Demutgesten spricht unter anderem die Tatsache, dass
manche Vögel besondere Signalorgane zu ihrer Unterstützung ausgebildet
haben. So haben die Jungen der Wasser-Ralle auf dem Hinterkopf eine nackte,
rote Stelle, die einer angreifenden, älteren und stärkeren Ralle
in sehr ausdrucksvoller Weise hingehalten, gewissermaßen präsentiert
wird, wobei sie überdies noch dunkelrot anläuft. Alle diese
merkwürdigen Zeremonien laufen also darauf hinaus, dem Gegner gerade
jene Handlungsweise leicht zu machen, die unter Hemmung gesetzt werden
soll. Natürlich verliert der Hund keineswegs die Lust zu beißen,
wenn ihm der andere gnadeflehend den Hals hinhält. Im Gegenteil,
wir haben ja gesehen, dass er eindeutig möchte, aber nicht kann.
Welcher Art diese Hemmung ist, ob blind reflektorisch oder nicht, bleibt
uns vorläufig gleich. Wir stellen schlicht und rein empirisch fest,
dass ein Tier, das sich unterlegen fühlt, den Angriff eines stärkeren
Artgenossen unter Hemmung setzen kann, indem es sich gerade diesem Angriff
schutzlos preisgibt.
Und kennen wir schließlich nicht Gleiches aus menschlichem Verhalten?
Der homerische Krieger, der sich ergeben will und um Gnade fleht, wirft
Helm und Schild weg, fällt auf die Knie und beugt den Nacken, lauter
Handlungen, die es dem Gegner eigentlich erleichtern zu töten, tatsächlich
aber eine solche Handlungsweise erschweren. Noch heute sind in manchen
Gesten der Höflichkeit symbolgewordene Reste derartiger Demutsgebärden
erhalten: Verbeugung, Hutabnehmen, im militärischen Zeremoniell das
Präsentieren der Waffe. Übrigens scheinen die Handlungen des
Gnadeflehens bei den griechischen Kriegern nicht gerade von durchschlagender
Wirkung gewesen zu sein; die Helden Homers waren durch sie bestimmt nicht
zu beeinflussen; zumindest waren sie in dieser Hinsicht nicht so weichherzig
wie die Wölfe. Der Sänger berichtet uns genügend Fälle,
in denen der Gnadeflehende dann doch mitleidlos - oder trotz vorhandenem
Mitleid - umgebracht wurde. Auch die germanische Heldensage erzählt
genug Beispiele eines ebensolchen Versagens der Demutsgebärde, und
erst im Rittertum der Minnesängerzeit gehört die Schonung dessen,
der sich ergibt, zu den Geboten der Kampfmoral. Erst der christliche Ritter
ist auf Grund traditioneller und religiöser Moral so ritterlich,
wie es, objektiv gesehen, der Wolf aus der Tiefe seiner natürlichen
Triebe und Hemmungen heraus ist. Welch erstaunliches Paradoxon!
Selbstverständlich sind die angeborenen, instinktmäßig
festgelegten Hemmungen, die ein Tier abhalten, seine Waffen rücksichtslos
gegen seinesgleichen zu gebrauchen, nur ein funktionelles Analogon, allerhöchstens
ein leises Dämmern, sozusagen ein stammesgeschichtlicher Vorläufer
der gesellschaftlichen Moral des Menschen. Der vergleichende Verhaltensforscher
tut gut daran, sehr vorsichtig mit moralischen Werturteilen über
tierisches Verhalten zu sein. Trotzdem will ich mich hier zu einem gefühlsmäßigen
Werturteil bekennen: Ich finde es erschütternd und großartig,
dass jener Wolf nicht zubeißen kann, noch großartiger aber,
dass sich der andere darauf verhält! Ein Tier vertraut sein Leben
der ritterlichen Anständigkeit eines anderen an! Davon können
wir Menschen lernen. Ich wenigstens habe daraus ein neues und tieferes
Verständnis für ein wunderschönes und oft missverstandenes
Wort des Evangeliums geschöpft, das in mir bis dahin nur starken
gefühlsmäßigen Widerspruch wachgerufen hatte: "So
dich jemand auf die rechte Backe schlägt ..." Ein Wolf hat mich
gelehrt: Nicht, damit dein Feind dich nochmals schlage, sollst du ihm
die andere Backe hinhalten, nein, damit er das nicht kann, sollst du es
tun!
Wenn eine Tierart im Laufe ihrer Stammesgeschichte eine Waffe entwickelt,
die einen Artgenossen mit einem einzigen Schlage zu töten vermag,
so muss sie parallel zu der Waffe eine soziale Hemmung entwickeln, die
einen Gebrauch verhindert, der den Bestand der Art gefährden kann.
Nur wenige Raubtiere leben so ungesellig, dass sie derartiger Hemmungen
im Allgemeinen entraten können. Sie kommen nur zur Paarungszeit zusammen,
und dann überwiegt der Geschlechtstrieb alles andere, auch die Kampflust,
so sehr, dass besondere Hemmungen sozialer Natur entbehrlich sind. Solche
Einsiedler sind der Eisbär und der Jaguar, und es ist bezeichnend
für die besprochene Eigenschaft dieser Tiere, dass in der Geschichte
unseres Schönbrunner Tiergartens jede dieser beiden Arten bereits
einen Gattenmord zu verzeichnen hat. Das System der arteigenen, ererbten
Triebe und Hemmungen und der Bewaffnung, die einer sozialen Tierart von
der Natur mitgegeben wurde, bildet eine Ganzheit, die sorgfältig
ausgewogen ist und sich selbst reguliert. Alle Wesen haben ja ihre Bewaffnung
durch denselben Vorgang der Stammesentwicklung erhalten, der auch ihre
Triebe und Hemmungen herausbildete; denn der Bauplan des Körpers
und der Leistungsplan der arteigenen Verhaltensweisen einer Tierart sind
nur eines.
Nur ein Wesen hat Waffen, die nicht an seinem Körper gewachsen sind,
von denen deshalb auch der Leistungsplan seiner angeborenen arteigenen
Verhaltensweisen nichts weiß, für deren Gebrauch es keine entsprechend
machtvolle Hemmung bereitliegen hat: Dieses Wesen ist der Mensch. Unaufhaltsam
wächst die Furchtbarkeit seiner Waffen, wächst innerhalb von
wenigen Jahrzehnten um ein Vielfaches. Angeborene Triebe und Hemmungen
aber brauchen zu ihrem Entstehen Zeiträume wie Organe sie brauchen,
Zeiträume von einer Größenordnung, in der Geologe und
Astronom zu rechnen gewohnt sind, nicht Historiker. Die Waffen haben wir
nicht von der Natur mitbekommen.
Wir haben sie in freier Tat geschaffen. Was wird uns leichter fallen,
die Schaffung der Waffe oder die des Verantwortungsgefühls, der Hemmung,
ohne die unser Geschlecht an seiner eigenen Schöpfung zugrundegehen
muss? Auch diese Hemmung müssen wir uns in freier Tat erschaffen,
denn auf unsere Instinkte können wir uns ja eben nicht verlassen.
Im November 1935 schloss ich einen Aufsatz über "Moral und
Waffen der Tiere" mit den Worten: "Es wird der Tag kommen, da
von zwei kriegführenden Gegnern jeder den anderen glatt vernichten
kann. Es kann der Tag kommen, da die gesamte Menschheit auf zwei solche
Lager verteilt ist. Werden wir uns dann verhalten wie die Hasen oder wie
die Wölfe? Das Schicksal der Menschheit wird sich mit dieser Frage
entscheiden." Man darf wirklich gespannt sein.
Konrad Lorenz ("Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den
Fischen")
|