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Hoch über die Heidehügel flog ein alter, weiser Rabe. Der
wollte viele Meilen nach Westen, bis an die Meeresküste, um ein Schweinsohr
auszugraben, das er dort in der guten Zeit vergraben hatte. Jetzt war
es spät im Herbst und das Futter knapp. Wenn ein Rabe kommt, sagt
Vater Brehm [Christian Ludwig Brehm], dann braucht man sich nur umzusehen,
um einen zweiten zu entdecken. Aber man konnte sich lange umsehen: der
da geflogen kam, der alte weise Rabe, war und blieb der einzige. Und ohne
sich um etwas zu kümmern, glitt er auf seinen starken kohlschwarzen
Schwingen durch die dicke Regenluft, geradeaus nach Westen steuernd, ohne
einen Laut von sich zu geben. Doch während er ruhig dahinflog, beobachteten
seine scharfen Augen, die Landschaft unter ihm, und er ärgerte sich.
Von Jahr zu Jahr wurden die grünen und goldgelben Flecken dort unten
zahlreicher und größer, Stück für Stück schnitten
sie aus der Heide heraus, kleine Häuser mit roten Ziegeldächern
folgten niedrige Schornsteine mit dickem Torfrauch - Menschenwerk und
Menschen überall.
Er erinnerte sich seiner Jugendzeit - das mochte jetzt einige Winter
her sein -, da war hier genug Platz für einen tüchtigen Raben
mit Familie. endlos lange Heidestrecken, junge Hasen und kleine Vögel
die Menge, Eidergänse am Strand mit großen, köstlichen
Eiern, so viel von solcher Art Leckerbissen, wie man sich nur wünschen
konnte. Nun stand hier Haus bei Haus, überall gelbe Kornfelder und
grüne Wiesen. Und so knapp war das Futter, dass ein alter, ehrenwerter
Rabe meilenweit um ein lumpiges Schweinsohr fliegen musste. Die Menschen
- die Menschen! Der alte Vogel kannte sie. Er war unter Menschen aufgewachsen
und sogar unter sehr vornehmen. Auf dem großen Gut dicht bei der
Stadt hatte er seine Kindheit und seine Jugend verlebt. Aber jedes Mal,
wenn er jetzt über den Hof hinflog, hob er sich hoch in die Luft,
um nicht wiedererkannt zu werden. Ob er es gut bei den vornehmen Menschen
gehabt hatte? O ja, wie man es nimmt. Nahrung im Überfluss und eine
Menge zu lernen. Aber es blieb doch die Gefangenschaft; die ersten Jahre
mit gestutztem linkem Flügel und später auf "parole d'honneur"
[Ehrenwort] - wie der alte Herr zu sagen pflegte. Es war dieses Ehrenwort,
das er gebrochen hatte, und das geschah an einem Frühlingstage als
ein junges glänzendschwarzes Rabenweibchen über den Garten flog.
Einige Zeit später - es mochten wohl ein paar Winter seitdem vergangen
sein, da kam er auf den Hof zurück. Aber ein paar fremde Knaben warfen
mit Steinen nach ihm; der alte Herr und das junge Fräulein waren
nicht da. Die werden wohl in der Stadt sein, dachte der Rabe und kam nach
einiger Zeit wieder. Doch da wurde ihm derselbe Empfang zuteil.
Jetzt war der alte, ehrenwerte Vogel - denn inzwischen war er alt geworden
- beleidigt. Von nun an flog er hoch über das Haus hinweg. Er wollte
nichts mehr mit den Menschen zu schaffen haben, und der alte Herr und
das junge Fräulein konnten sich die Augen nach ihm aussehen - und
das taten sie, davon war er überzeugt! Und alles, was er gelernt
hatte, vergaß er. Sowohl die schwierigen französischen Wörter,
die er in der Stube von dem Fräulein gelernt, als auch die ungleich
leichteren Kraftausdrücke, die er sich auf eigene Faust in der Gesindestube
angeeignet hatte. Nur zwei menschliche Laute blieben als Überreste
der entschwundenen Gelehrsamkeit in seinem Gedächtnis hängen.
Wenn er richtig bei guter Laune war, geschah es, dass er sagte: "Bonjour,
madame!" Und wenn er zornig war, schrie er: "Hol mich der Teufel!"
Rasch und sicher glitt er durch die, dicke Regenluft. Da schimmerte bereits
der weiße Kranz der Brandung längs der Küste. Er entdeckte
eine große schwarze Fläche unter sich: das Torfmoor. Rings
im Kreise lagen die Gehöfte auf den Anhöhen. Aber auf der tiefer
gelegenen Ebene - sie war wohl über eine Meile lang - fand sich keines
Menschen Spur, nur ein paar Torfhaufen am Rande und dazwischen blinkende
Wasserpfützen. "Bonjour, madame!" rief der alte Rabe und begann in
großen Ringen das Moor zu umkreisen. Es sah hier so gemütlich
aus, dass er langsam und vorsichtig herabglitt und sich auf eine Baumwurzel
mitten im Moor setzte. Hier war es ungefähr so wie in alten Tagen:
öde und - stille. Hier und dort, wo der Grund trockener war, wuchsen
ein wenig Heidekraut und vereinzelte Binsen. Das Wollgras war verblüht,
aber auf den steifen Halmen hing noch das eine und das andere Haarbüschel,
schwarz und verfilzt vom Herbstregen. Sonst nichts als feinzerriebene
schwarze Erde, nass und voller Wassertümpel - graue, gewundene Baumwurzeln
ragten empor, zu einem knorrigen Nest verflochten. Der alte Rabe begriff
wohl, was er sah: hier hatten vor langen Zeiten Bäume gestanden,
lange, lange vor dem er geboren wurde. Der Wald war fort. Zweige, Laub,
alles dahin. Nur die Wurzeln noch übrig, ineinander verschlungen,
tief unten in der weichen Masse von schwarzen Fasern und Wasser. Aber
weiter konnte die Veränderung nicht gehen. So musste es bleiben.
Das mussten die Menschen wenigstens liegen lassen, wie es lag. Der alte
Vogel richtete sich auf. Die Höfe lagen so weit weg. Hier war es
friedlich und sicher mitten in dem grundlosen Moor. Etwas von dem Alten
musste doch in Frieden bleiben. Er glättete die glänzenden schwarzen,
Federn und sagte mehrere Male: "Bonjour, Madame!"
Aber vom nächsten Hof herab kamen ein paar Männer mit Pferd
und Wagen. Zwei kleine Jungen liefen hinterher. Sie fuhren auf einem gewundenen
Weg zwischen den Moorhügeln, doch mitten auf das Moor hinaus. Sie
machen bald halt, dachte der Rabe. Aber sie kamen immer näher. Der
alte Vogel bewegte unruhig den Kopf. Es war verwunderlich, wie weit sie
sich hinauswagten. Endlich machten sie halt, und die Männer gingen
mit Spaten und Äxten an die Arbeit. Der Rabe konnte sehen, wie sie
sich an einer schweren Baumwurzel abmühten, die sie loshaben wollten.
Sie werden bald müde werden, dachte der Rabe. Aber sie wurden nicht
müde. Sie hieben mit den Äxten - es waren die schärfsten,
die der Rabe je gesehen hatte -, sie gruben und arbeiteten, und schließlich
gelang es ihnen wirklich, den schweren Stamm auf die Seite zu wälzen,
so dass das starke Wurzelwerk zum Himmel ragte.
Den kleinen Jungen war es langweilig geworden, Kanäle zwischen den
Wassertümpeln zu graben. "Sieh mal die große Krähe dort"
sagte der eine. Sie versahen sich mit Steinen und schlichen sich zwischen
den Moorhügeln vorwärts, Der Rabe sah sie wohl, aber er hatte
anderes gesehen, das schlimmer war. Nicht einmal hier draußen im
Moor ließ man das Alte in Frieden. Jetzt hatte er gesehen, dass
selbst die grauen Baumwurzeln, die älter waren als der älteste
Rabe und die so fest verflochten in dem tiefen, unergründlichen Moor
lagen, dass selbst die den scharfen Äxten weichen mussten. Und als
die Jungen gerade so nah waren, dass sie sich anschickten zu werfen, hob
er die schwarzen Schwingen und flog auf.
Aber als er in die Luft stieg und herniedersah auf die geschäftigen
Männer und die dummen Jungen, die, in jeder Hand einen Stein, ihm
offenen Mundes nachstarrten, da stieg der Zorn in dem alten, ehrwürdigen
Vogel auf. Wie ein Adler stieß er auf die Jungen nieder, und während
seine großen Schwingen ihnen um die Ohren schlugen, schrie er mit
fürchterlicher Stimme "Hol mich der Teufel!". Schreiend warfen sich
die Jungen zur Erde. Als sie nach einer Weile aufzusehen wagten, war es
wieder stille und öde. Weit, weit weg flog ein einsamer schwarzer
Vogel nach Westen.
Aber bis in ihre Mannesjahre, ja bis zu ihrem Todestage, behielten sie
die Überzeugung, dass sich der Böse ihnen offenbart habe - draußen
auf dem schwarzen Moor in Gestalt eines über die Maßen großen
schwarzen Vogels mit feurigen Augen. Und dabei war es doch nur ein alter
Rabe gewesen, der nach Westen flog, um ein Schweinsohr auszugraben, das
er verborgen hatte.
Alexander Lange Kielland
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